Wer weniger einseitig berichten und vielfältige Positionen, Blickwinkel und Themen berücksichtigen will, kann sich bei der journalistischen Arbeit regelmäßig die folgenden Fragen stellen:
Was ist meine persönliche Einstellung zum Thema?
In den Redaktionen arbeiten keine Nachrichtenautomaten, die zuverlässig objektive Wahrheiten ausspucken, wenn man ein beliebiges Weltgeschehen in sie hineinsteckt. Der Bias, also die verinnerlichten, unbewussten Vorurteile von Journalist*innen, wirken bereits bei der Entscheidung mit, welchen winzigen Ausschnitt der Wirklichkeit sie für berichtenswert halten. Professionelle Berichterstattung beginnt deshalb damit, sich die eigenen Interessen, Einstellungen, Erfahrungen und Vorlieben bewusst zu machen. Wer seine persönliche Perspektive negiert und seine Sicht der Dinge für allgemeingültig hält, ist dem eigenen begrenzten Blick auf die Welt nur umso mehr ausgeliefert.
Bilde ich vielfältige Perspektiven auf mein Thema ab?
Es lohnt sich, jedes Thema aus möglichst vielen Perspektiven zu betrachten, bevor man sich dafür entscheidet, wie der Bericht schließlich aussehen soll. Journalist*innen neigen dazu, gesellschaftliche Debatten auf Mannschaftswettkämpfe zu verkürzen: Team Kopftuch gegen Team Neutralität. Team Anti-Rassismus vs. Team Meinungsfreiheit. Team Klimaschutz vs. Team Wirtschaft.
Doch die Realität bietet weit mehr Facetten. Ein Gespräch mit Fachleuten kann eine gute Einordnung liefern und die eigene Perspektive erweitern. Vielleicht gibt es ja auch jemanden in Ihrer Redaktion, der oder die auf neue Perspektiven aufmerksam machen könnte. Wenn nicht, sollte das thematisiert werden.
Kommen Betroffene zu Wort?
Dass im TV ausschließlich weiße Gäste miteinander über Rassismus, Heterosexuelle über Homophobie und Menschen ohne Behinderung über Teilhabe im Bildungssystem reden, kommt zwar immer noch vor, sorgt aber mittlerweile immerhin für Unmut. Aber auch bei allen anderen Themen sollten Medien die gesamte gesellschaftliche Vielfalt abdecken. Schließlich betreffen Themen wie Rente, Corona und die Bierpreise auf dem Oktoberfest uns alle.
Einige Gruppen bleiben übrigens auch deshalb außen vor, weil sie nicht über die nötigen Ressourcen verfügen und keine professionelle Pressearbeit mit Ansprechpersonen bieten können. Das ist ein erschwerender Umstand für Journalist*innen, aber keine Ausrede. Wie Sie den beheben können, erfahren Sie hier.
Nehme ich die Täter*innen-Perspektive ein?
Vor allem in der Berichterstattung über Hasskriminalität geschieht es häufig, dass Journalist*innen Täter*innen und Opfer vertauschen. Ein schwules Paar wurde nicht niedergeschlagen, „weil sie sich küssten”, eine Ehefrau wurde nicht ermordet, „weil sie sich trennen wollte”, ein Jude wurde nicht angespuckt „weil er eine Kippa trug”, eine Frau wurde nicht angegriffen „weil sie ein Kopftuch trug”. Menschen werden Opfer von Gewalt aufgrund homofeindlicher, misogyner oder antisemitischer Einstellungen der Täter*innen. Überschriften wie „Sie musste sterben, weil sie ein Kopftuch trug“ nehmen ausschließlich die Sicht der Täter*innen ein. Das muss man wollen und nicht aus Versehen tun.
Hinterfrage ich Klischees?
Journalist*innen sind beides: Chronist*innen und Akteur*innen gesellschaftlicher Diskurse. Vor allem bei der Berichterstattung über gesellschaftlich benachteiligte Minderheiten sollten sie Vorurteile hinterfragen, die allgemein vorherrschenden Standpunkte nicht als gegeben hinnehmen, sondern analysieren und einordnen.
Handelt die Geschichte wirklich von „arabischen Großfamilien“ oder waren es vielleicht doch nur drei Halbstarke in Berlin-Neukölln? Stimmt es überhaupt, dass Menschen mit Behinderung immer „unter ihrem Schicksal leiden”? Haben bisexuelle Menschen wirklich besonders häufig wechselnde Partner? Und gibt es tatsächlich Karrierefrauen, aber nie Karrieremänner?
Journalist*innen sind nicht davor gefeit, Klischees auf den Leim zu gehen. Mit professioneller Berichterstattung hat das Ergebnis dann nicht mehr viel zu tun.
Gehe ich Populist*innen auf den Leim?
Das Verbreiten von Klischees und Unwahrheiten ist der erste Schritt, um gesellschaftliche Stimmungen und Debatten zu erzeugen, die nichts mit der Realität zu tun haben. Oft ist es nur ein kleiner Spin, der aus einem unbedeutenden Ereignis einen medialen Aufreger macht: Wollen „die Muslime“ wirklich „unser Weihnachten“ verbieten oder stammt die Aussage ursprünglich von irgendeinem Typen im Netz? Hat die Gender-Professorin wirklich Sprechverbote gefordert oder vielleicht einfach einen Vorschlag gemacht? Ist die neue Kita-Broschüre wirklich etwas für Seite 1 oder nicht doch ein Thema für den nächsten Elternabend?
Es gehört zur Strategie von Populist*innen, mit gezielten Provokationen und Tabubrüchen ihre Thesen in die Öffentlichkeit zu bringen. Es gehört zum Job von Journalist*innen, nicht darauf hereinzufallen.
Polarisiere ich unnötig?
Journalismus muss verständlich sein, aber nicht vereinfachend. Themen wie Flucht und Migration, die Ursachen urbaner Kriminalität, die vielfältigen Versuche, unsere Sprache geschlechtergerecht zu machen oder nicht-binäre Identitäten sind nunmal komplex. Monokausale Erklärungen und undifferenzierte Unterscheidungen zwischen gut und böse führen fast immer in die Irre. Das können Sie dem Publikum auch ruhig so sagen.
Normalisiere ich anti-demokratische, unwissenschaftliche oder menschenfeindliche Positionen?
Zum Glück kommt heute kein*e Redakteur*in mehr auf die Idee, ein „Pro und Contra” zum Thema Frauenwahlrecht abzudrucken oder in einem Kommentar die Neuverhandlung der Oder-Neiße-Grenze zu fordern. Die Stärke der demokratischen und menschlichen Werte unserer Gesellschaft zeigt sich auch daran, dass wir bestimmte Debatten nicht (mehr) führen. Deshalb können Medienschaffende auch darauf verzichten, Personen Raum zu geben, die es eindeutig darauf abgesehen haben, rassistische, sexistische, queerfeindliche oder anti-demokratische Positionen zu normalisieren.
Fragen wie „Sollen wir Flüchtlinge im Mittelmeer retten?”, „Sind gleichgeschlechtliche Eltern gefährlich für Kinder?” oder „Gehört der Islam zu Deutschland?” zielen bewusst darauf ab, ohnehin schon ausgegrenzte Gruppen weiter zu marginalisieren und unter dem Vorwand der „Debatte” Unsagbares als legitime Position erscheinen zu lassen. Perspektiven- und Debattenvielfalt ist wichtig. Sie hat aber auch ihre Grenzen und die stehen im Grundgesetz.
Sollen trans* Personen selbst über ihre geschlechtliche Zuordnung entscheiden, dürfen inter Personen an Sportwettbewerben teilnehmen? Steile Meinungen dazu äußern auffallend häufig Feuilletonist*innen oder Gastautor*innen mit beschränkter Sachkenntnis. Bei Minderheitenrechten sind jedoch Detailkenntnis und Fingerspitzengefühl gefragt. Gegen LGBTI+ gerichtete Propaganda wird mit Millionenbeträgen befeuert. Solche Kampagnen zu unterstützen, verbietet sich; es gilt, diese investigativ offenzulegen.
Joane Studnik, Berliner Zeitung
Bilde ich vielfältige Meinungen und Menschen ab?
Eigentlich eine leichte Übung für Journalist*innen. Und dennoch kommen manche gesellschaftlichen Gruppen kaum zu Wort, während andere Positionen und Personen omnipräsent sind. Gerade einmal 26 Prozent aller Expert*innen, die im Jahr 2020 zu Wort kamen, waren weiblich. In öffentlich-rechtlichen Talkshows saßen im Jahr 2019 zum Beispiel mehr Peters als alle türkischen Namen zusammen. Bildet das die Realität im Einwanderungsland Deutschland ab? Diese Frage sollten Journalist*innen bei der Zusammenstellung ihrer Protagonist*innen, Expert*innen oder Panelist*innen immer im Hinterkopf haben.