Luca Renner, ZDF-Fernsehrät*in, LSVD Thüringen

„Ich brauche keine Verfassungsfeinde im ZDF-Fernsehrat“

2014 hat das Bundesverfassungsgericht die Zusammensetzung des ZDF-Fernsehrates für verfassungswidrig erklärt und insbesondere den hohen Anteil staatsnaher Rundfunkrät*innen gerügt. Ist der ZDF-Fernsehrat heute ein staatsfernes Gremium?
Also auf dem Papier auf jeden Fall. Es sind von 60 Mitgliedern lediglich noch 16 Vertretungen der Bundesländer und 2 Personen als Vertretung der Bundesregierung. Das ist nicht mal ein Drittel des Gremiums. Eine politische Einflussnahme auf das Programm oder die medienpolitische Ausrichtung des Senders sehe ich aber an keiner Stelle durch niemanden, da dies auch nicht unser Auftrag ist.

Bei den staatsnahen Mitgliedern handelt es sich in den meisten Rundfunkräten um Landtagsabgeordnete. Im ZDF-Fernsehrat sitzen hingegen vor allem Regierungsvertreter*innen. Sehen Sie darin ein Problem?
Der Vorteil ist, dass die AFD bei der derzeitigen Regelung nicht im Gremium vertreten ist. Aber diese Partei möchte ja den öffentlich-rechtlichen Rundfunk sowieso abschaffen. Ich würde mir eher wünschen, dass die ZDF-Regelung auch in den Rundfunkstaatsverträgen der Länder Niederschlag findet. Ich brauche keine Verfassungsfeinde im ZDF-Fernsehrat.

Auch bei manchen gesellschaftlichen Vertreter*innen kann man an der Staatsferne zweifeln. Der Bereich „Kunst und Kultur“ wird zum Beispiel vom ehemaligen Ministerpräsidenten des Saarlandes vertreten. Versuchen die politisch Verantwortlichen damit, ihren Einfluss zu wahren?
Ich kann bei dem Vertreter aus dem Saarland in keiner Weise erkennen, dass er irgendwelche politischen oder staatlichen Interessen verfolgt. Seine Mitarbeit ist, wie im Staatsvertrag beschrieben, sehr programmbezogen. Unabhängig davon würde ich mir wünschen, dass mehr Menschen, die keine originäre politische Vergangenheit haben, Teil des Fernsehrates werden. Dieses Land hat so viele schlaue und tolle Menschen, deren Perspektiven für die Arbeit im Fernsehrat sicher sehr bereichernd wären.

Gesellschaftlichen Vertreter*innen können auf unterschiedlichen Wegen in den Fernsehrat gelangen: Einige Organisationen wie die beiden großen Kirchen oder IHK werden explizit im Staatsvertrag genannt. In anderen Fällen sind nur bestimmte Themen einem Bundesland zugeordnet: „Migration“ zum Beispiel Hessen, „LSBTTIQ*“ Thüringen. Sehen Sie darin eine Benachteiligung?
Die Bundesländer bestimmen eigenständig, wie sie die Besetzungsverfahren organisieren. Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, wieso die Kirchen und deren Partnerorganisationen so viele Sitze haben müssen oder auch arbeitgebernahe Organisationen, hingegen zum Beispiel Schwarze Menschen oder Rom*nja und Sinti*zze nicht bei uns vertreten sind. Das sind doch relevante Bevölkerungsgruppen, die im Übrigen auch ihre Beiträge regelmäßig zahlen. Auch der Deutsche Frauenrat oder die Schülervertretung haben kein ständiges Mandat. Auf dem Papier scheint es also Mitglieder erster und zweiter Klasse zu geben. In der praktischen Zusammenarbeit ist dies zum Glück nicht der Fall. 

Sie kritisieren, dass Fernsehrät*innen bei ihrer Arbeit teils auf ganz unterschiedliche Ressourcen zurückgreifen können. Worin besteht dieses Ungleichgewicht? Schließlich arbeiten doch alle Fernsehrät*innen ehrenamtlich und bekommen dieselbe Aufwandsentschädigung.
Das ist grundsätzlich korrekt. Bei den Staatsvertreter*innen besteht aber die Möglichkeit das ein Büro oder ganzes Referat die Sitzungen vorbereitet. Sie nehmen auch im Rahmen ihrer dienstlichen Tätigkeit an den Sitzungen teil. Das ist sozusagen Teil ihrer Aufgaben. Zumindest was den Rahmen der dienstlichen Tätigkeit angeht, trifft dies auch auf einige Vertreter*innen großer Organisationen zu. Die meisten der zivilgesellschaftlich bestellten Mitglieder hingegen, welche altersbedingt noch Lohnarbeit verrichten müssen, müssen für die Sitzungen von Ausschüssen und Plenum Erholungsurlaub nehmen. Und das, was wir da in Ausschüssen verrichten, ist kein Erholungsurlaub, sondern Arbeit.

Wie lässt sich dieses Ungleichgewicht beheben?
Es sollten zumindest alle Mitglieder für Vorbereitung –  die Unterlagen müssen ja auch noch gelesen werden – und Sitzungen freigestellt werden. Gerne natürlich mit finanziellem Ausgleich an die Arbeitgeber*innen. Da verzichte ich dann auch gerne auf das Sitzungsgeld pro Tag.

Sie kritisieren auch Freundeskreise, in denen sich Gleichgesinnte meist nach parteipolitischen Präferenzen zusammenschließen. Warum?
Ich kritisiere nicht den Zusammenschluss Gleichgesinnter, aber das Machtzentrum, welches daraus erwächst. Die zwei Freundeskreise legen paritätisch fest, wer Vorsitz und stellvertretenden Vorsitz in den Ausschüssen besetzt, wer in den Verwaltungsrat und wer in das Präsidium des Fernsehrates gewählt wird. Ohne Mitarbeit in einem Freundeskreis oder Verbindungen in einen solchen wird das schwer bis unmöglich. Auch dass die Vorsitzenden der Freundeskreise den Vorsitz der Ausschüsse Chefredaktion und Strategie und Koordinierung aufteilen, kritisiere ich. Ich möchte niemandem die Kompetenz absprechen, aber weniger Machtagieren wäre an mancher Stelle sehr hilfreich.

Braucht es denn nicht aber irgendeine Möglichkeit der Vororganisation und Mehrheitsbildung?
Wie gesagt, sich mit Gleichgesinnten zusammenzuschließen, finde ich grundsätzlich gut und wichtig. Ob dies nun anhand von Parteizugehörigkeiten und deren Loyalitäten festgemacht werden müssen, wage ich zu bezweifeln. Ich wäre für eine thematische Zusammenkunft. Geclusterte Freundeskreise fände ich interessanter.

Was würden Sie noch ändern? Wie sieht für sie der ideale ZDF-Fernsehrat aus?
Ich wünsche mir sehr, dass gerade Schwarze Menschen und auch Rom*nja und Sinti*zze endlich einen Sitz im Fernsehrat erhalten. Und zwar dauerhaft. Der Fernsehrat ist doch noch sehr weiß und relativ alt. Eine tatsächliche Repräsentation der Gesellschaft fände ich sehr angesagt und notwendig. Gerade auch auf unterschiedliche Klassen bezogen und intersektional gedacht.

Jenny Luca Renner sitzt seit 2016 im ZDF-Fernsehrat und vertritt dort im Auftrag des Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) den Bereich LSBTTIQ*. Im ZDF-Fernsehrat hat Renner außerdem den stellvertretenden Vorsitz im Ausschuss Programmdirektion inne. 
 

René Mertens, Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

„Bei einigen Organisationen frage ich mich wirklich, warum die da eigentlich sitzen”

NdM: Wie gut sind queere Menschen in Rundfunkräten vertreten?
René Mertens: Wir beobachten seit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil von 2014 einen positiven Trend. Das hat angefangen mit dem ZDF-Fernsehrat und ging dann relativ schnell zum Saarländischen Rundfunk und Hörfunkrat des Deutschlandradios. Vor wenigen Monaten nahm dann auch die LSBTIQ*-Vertretung beim MDR die Arbeit auf. Wir hoffen, dass auch der rbb Rundfunkrat nach der Abgeordnetenhauswahl eine queere Vertretung bekommen wird. Es gibt aber weiterhin viele Gremien ohne Vertretung. Zuletzt hat es der NDR bei seiner Reform 2021 versäumt, eine queere Vertretung aufzunehmen. Das war wirklich eine herbe Enttäuschung.

Der LSVD ist sehr aktiv, was Forderungen nach mehr Vielfalt in Rundfunkräten angeht. Sehen Sie die Zunahme queerer Sitze als Erfolg Ihres Engagements?
Das ist ganz unterschiedlich. Bei der Reform des ZDF-Staatsvertrages haben wir uns besonders politisch stark engagiert und die Einhaltung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eingefordert. Beim MDR war es ähnlich. In Bremen hingegen haben wir erst von unserem Glück erfahren, als der Entwurf für den neuen Staatsvertrag schon draußen war. Genauso war es bei der Besetzung des Hörfunkrats des Deutschlandradios.

Gibt es auch Länder, in denen Sie auf taube Ohren stoßen?
Ja, beim NDR-Rundfunkrat. Wir hatten die Parteien zu den Landtagswahlen in Hamburg und Schleswig-Holstein noch auf die fehlende Besetzung hingewiesen. In Hamburg hatten die regierenden Parteien sogar zugesagt, das Thema angehen zu wollen, es dann aber doch nicht getan. In Bayern hatte unser Landesverband eine Kampagne und eine Unterschriftenaktion für einen queeren Sitz gestartet. Trotzdem war die Landesregierung nicht bereit, für eine queeren Sitz zu sorgen. Bayern ist aber auch das einzige Bundesland ohne einen Aktionsplan gegen LSBTIQ*-Feindlichkeit.

Gibt es typische Argumente, mit denen Forderungen nach einem queeren Sitz zurückgewiesen werden?
Beim NDR war die Rückmeldung der Hamburger Behörde für Medien: „Dadurch, dass man den Rundfunkbeitrag nicht wie geplant erhöhen könne, fehlten die Mittel für einen Sitz bzw. für die Reform der Gremien-Zusammensetzung.” Wenn es nicht so schlimm wäre, wäre es lustig. Häufig wird auch gesagt, es sei einfach kein Platz vorhanden. Es ist immer die Frage: Wenn eine queere Vertretung hinzukommt, verliert dann eine andere Organisation ihren Sitz? Die Kirchen sind auch immer stark vertreten. Bei einigen Organisationen frage ich mich wirklich, warum die da eigentlich sitzen.

In Ihrer Stellungnahme zum MDR-Staatsvertrag forderten Sie auch höhere Aufwandsentschädigungen. Warum?
Queere Verbände aber auch viele andere Gruppen arbeiten rein ehrenamtlich. Wir sind nicht so große Player wie die Katholische Kirche oder wie Gewerkschaften, die einen stabilen Unterbau aus hauptamtlichen Angestellten haben. In Sachsen-Anhalt ist bei uns zum Beispiel genau eine Person beschäftigt. Damit du an einer Sitzung wirklich produktiv teilnehmen kannst, musst du aber manchmal Vorlagen von 100 Seiten durcharbeiten. Es stehen rund 30 Sitzungen im Jahr an. Wenn Themen wie das Telemediengesetz abgestimmt werden, brauchst du eine Weile, um dich erst einmal einzuarbeiten. Für viele vorwiegend auf Ehrenamt beruhende Organisationen ist das sehr schwierig zu stemmen. Deshalb liegen Freud und Leid sehr nah beieinander. Natürlich freust du dich, wenn deine Organisation benannt wird, in den Rat zu gehen. Aber trotzdem musst du dich im zweiten Schritt fragen: Wer kann die Vertretung übernehmen, welche personellen Ressourcen haben wir?

Was muss noch passieren, damit Rundfunkräte vielfältiger werden?
Es hilft, wenn der Impuls zur Reform aus dem Gremium selbst kommt. Die Rundfunkrät*innen müssen sich selbst fragen: Spiegelt unser Gremium eigentlich noch unsere Gesellschaft wider? Sind alle Gruppen vertreten, die vertreten sein sollen? Das schwierige ist, wenn einmal ein Staatsvertrag reformiert worden ist, dauert es relativ lange bis eine Landesregierung das Thema wieder angeht. Das kann dann schon noch einmal fünf bis acht Jahre dauern. Umso ärgerlicher ist es, dass es beim NDR nicht geklappt hat. Wir hoffen jedoch sehr, dass andere Bundesländer wie etwa Berlin und Brandenburg hier progressiver handeln werden.

René Mertens ist Bund-Länder-Koordinator des Lesben- und Schwulenverbands in Deutschland (LSVD).

Jacques Delfeld, SWR-Rundfunkrat, Verband Deutscher Sinti und Roma

„In diesen Gremien sitzen zu wenige Menschen, die von Rassismus betroffen sind”

NdM: Sie sind der einzige Vertreter der Sinti*zze und Rom*nja in Deutschland in einem öffentlich-rechtlichen Aufsichtsgremium. Wie haben Sie das geschafft?
Jacques Delfeld: Dazu muss ich etwas ausholen. Ich bin seit 35 Jahren in der Bürgerrechtsarbeit tätig und setze mich gegen Rassismus und gegen Diskriminierung ein und habe immer wieder Kritik an den Medien geäußert. Weil die Darstellung von Sinti und Roma oft mit Klischees und Vorurteilen bis hin zu Kriminalisierung und Diskriminierung geführt hat. Zudem sind Minderheiten besonders häufig von problematischer Berichterstattung betroffen. Vor diesem Hintergrund begann ich, mich auch für einen Sitz im Rundfunkrat einzusetzen. Dieser Prozess hat lange Jahre gedauert. Dazu gehörte viel Vorarbeit, Überzeugung, Gespräche. Dass ich dann schließlich in den Rundfunkrat gekommen bin, ist auch dem damaligen Landtagspräsidenten von Rheinland-Pfalz, Joachim Mertes, der mittlerweile leider verstorben ist, zu verdanken. Er hat auf seinen Platz im Rundfunkrat verzichtet, damit der Verband deutscher Sinti und Roma aufgenommen werden kann.

Warum stieß ihr Bemühen so lange auf so wenig Entgegenkommen? Sinti*zze und Rom*nja sind ja kein völlig unbedeutender Teil der deutschen Gesellschaft, sondern eine anerkannte nationale Minderheit.
Es heißt immer „gesellschaftlich relevante Gruppierungen”. Aber viele sehen Sinti und Roma und auch andere Minderheiten leider nicht als besonders relevant an. 

Wie sind die Erfahrungen Ihrer Kolleg*innen in den anderen Bundesländern? 
Auch Sie fordern einen Sitz im Rundfunkräten. Das ist auch unsere Forderung als Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. Allerdings ist das nach dem, was ich von meinen Kollegen aus den anderen Landesverbänden mitkriege, sehr schwer.

Sie haben die oft problematische Berichterstattung schon angesprochen. Können Sie mir ein Beispiel dafür nennen und wie mit dem Thema im Gremium umgegangen wird?
Beispiel „Nellys Abenteuer”. Das war ein Kinderfilm – gefördert von der Bundesregierung, ausgestrahlt vom SWR. In dem Film geht es darum, wie ein junges deutsches Mädchen in Rumänien von Roma entführt wird. Über den ganzen Film wird ein völlig negatives Bild von den Menschen dort vermittelt. Ich habe damals interveniert und darauf hingewiesen, dass der Film von Anfang bis Ende mit Vorurteilen gefüllt ist.

Konnten Sie etwas erreichen?
Leider habe ich mich nicht durchsetzen können. Bis auf zwei oder drei andere haben die meisten Mitglieder das anders gesehen, also wurde der Film weiter gesendet. In einem Gremium von 50, 60 Leuten, die sie erst einmal davon überzeugen müssen, dass es sich dabei um Vorurteile handelt, ist es besonders schwer. Da kriegen Sie schon manchmal einen Hals.

Wie lässt sich das ändern?
Das Problem ist, dass zu wenige Menschen, die von Rassismus und Diskriminierung betroffen sind, in diesen Gremien sitzen. Wenn sie keine Repräsentanten haben, die auf problematische Berichterstattung aufmerksam machen können, verändert sich wenig. Deshalb ist es wichtig, so viele verschiedene Repräsentanten wie möglich zu haben. Nicht nur diejenigen, die in der Gesellschaft sowieso schon gut situiert sind. Nicht nur die, sondern auch Vertreter von vielen anderen Minderheiten. Man darf natürlich nicht denken, dass man sofort alles ändert. Aber man hat schon Möglichkeiten, Dinge anzustoßen. Das sage ich auch als Ansporn für andere Minderheitenvertreter, die überlegen in solch ein Gremium zu gehen.

Jacques Delfeld ist Vorsitzender des Verbandes Deutscher Sinti und Roma – Landesverband Rheinland-Pfalz und stellvertretender Vorsitzender des Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. Seit 2014 ist Delfeld Mitglied im SWR-Rundfunkrat.

Gerd Ascheid, WDR Rundfunkrat, Landesbehindertenrat NRW

„Es ist etwas anderes, selbst dabei statt nur mitvertreten zu sein”

NdM: Sie vertreten den Landesbehindertenrat NRW im WDR-Rundfunkrat. Wie kam es dazu?
Gerd Ascheid: Wie man Mitglied wird, ist im WDR-Gesetz festgelegt. Die 55 Mitglieder des WDR-Rundfunkrat werden zum Teil vom Landtag und zum Teil von gesellschaftlichen Gruppen benannt. Eine davon ist der Landesbehindertenrat. Der kann ein Mitglied benennen. Im Landesbehindertenrat gibt es mehrere Verbände, unter anderem die Lebenshilfe Nordrhein-Westfalen. Ich bin der Landesvorsitzende der Lebenshilfe und wurde gefragt, ob ich das machen kann.

Für welche Themen setzen Sie sich im Rundfunkrat ein?
Einerseits natürlich insbesondere für Themen, die Menschen mit Behinderung betreffen. Das sind vor allem drei Bereiche: Zum einen Barrierefreiheit. Dazu gehören nicht nur Gebärdensprachdolmetscher. Zum Beispiel gibt es viele Sendungen, die zwar gut zu hören und zu sehen, aber zu kompliziert gemacht sind und damit für Menschen mit geistiger Behinderung eine Barriere darstellen. Das zweite Thema sind die Inhalte: Werden auch Themen, die für Menschen mit Behinderung relevant sind, berücksichtigt? Und schließlich das große Thema Inklusion. Werden Menschen mit Behinderung als normaler Teil des gesellschaftlichen Lebens gezeigt? Kommt ein Rollstuhlfahrer oder ein Mensch mit geistiger Behinderung auch mal vor, ohne dass es um seine Behinderung geht? Aber das Thema Behinderung ist nicht das einzige, mit dem mich beschäftige.

Mit welchem noch?
Ich hatte eine Professur für Elektrotechnik und Informationstechnik an der RWTH Aachen und habe insofern auch einen starken Bezug zu diesem Bereich. Mit dem Thema Künstliche Intelligenz beschäftige ich mich zum Beispiel.

Gibt es Schnittstellen zwischen den beiden Themen?
Ja, in jedem Fall. Das fängt bei Untertiteln an. Wenn Sie das mit neuronalen Netzen machen können, können Sie bei nahezu allen Programmen Untertitel realisieren – ohne, dass sich nochmal jemand hinsetzen muss, um zu überprüfen, ob alles richtig ist. Daran wird beim WDR auch schon gearbeitet.

Das klingt, als ob ihr Amt eine Menge Fachexpertise erfordert. Bräuchte es da nicht eigentlich mehr Vertreter*innen ihrer Art?
Das wäre gut. Es ist viel Arbeit. Zum Beispiel gibt es zwei Ausschüsse, die für das Thema Behinderung sehr relevant sind. Das ist der Programmausschuss, wo es um die Inhalte geht. Der andere ist der Ausschuss für Rundfunkentwicklung und Digitalisierung, in dem es auch um Barrierefreiheit geht. Ich kann mich aber nicht teilen. Und das ist Aufgabe der Gesetzgeber, mehr Organisationen aus der Behindertenarbeit zu berücksichtigen.

In Berlin wird zum Beispiel argumentiert, es bräuchte eigentlich gar keine eigene Vertretung für Menschen mit Behinderungen, weil deren Interessen schon von den Wohlfahrtsverbänden abgedeckt werden. Ist das ein berechtigter Einwand?
Ich denke nicht. Es ist gut, dass wir beim WDR solch eine Vertretung haben. Es ist richtig, dass ich in den Sozialverbänden Unterstützung finde. Da wird man nicht völlig allein gelassen und die haben auch eine gewisse Sensibilität gegenüber dem Thema. Aber es ist schon etwas anderes, selbst dabei als nur mitvertreten zu sein.

Haben Sie noch Wünsche oder Forderungen, wie sich die Arbeit in Rundfunkräten verbessern muss?
Es sind einige dicke Bretter zu bohren. Aber die Forderungen stelle ich lieber im Rundfunkrat als nach außen.

Gerd Ascheid vertritt als Landesvorsitzender der Lebenshilfe NRW den Landesbehindertenrat NRW im WDR-Rundfunkrat. Dort leitet er außerdem den Ausschuss für Rundfunkentwicklung und Digitalisierung. Bis 2019 war Ascheid Professor für Elektro- und Informationstechnik an der RWTH Aachen.
 

Sanne Kurz, BR-Rundfunkrätin, Bündnis90/Die Grünen

„So wird es nie eine Parität der Geschlechter geben.“

NdM: In einem von konservativen Männern dominierten Gremium haben Sie es geschafft, eine progressive Frau zur Intendantin zu machen. Wie ist Ihnen das gelungen?
Kurz: Als bekannt wurde, dass der alte Intendant nicht mehr antritt, haben wir von den Grünen damals weltweit sämtliche deutschsprachigen weiblichen Führungspersönlichkeiten durchforstet: Was können sie, was haben sie schon gemacht, welche Führungsverantwortung, welche Budgetverantwortung haben sie…? Am Ende hatten wir eine Shortlist mit 20 Frauen. Von denen haben wir uns dann mit sechs Frauen getroffen. Da hatten wir wirklich ein breites Spektrum an tollen Top-Frauen, die fantastische Führungspersönlichkeiten sind. 

Nun mussten Sie aber auch noch die Mehrheit im Rundfunkrat gewinnen. Wie haben Sie das geschafft?
Wir haben uns auf drei Frauen geeinigt, die wir den anderen Gruppen im Rundfunkrat vorgestellt haben. Bei jeder konnten wir sagen: Das wäre eine perfekte Intendantin. Unser Ziel war, dass wir uns auf eine gemeinsame Kandidatin einigen. Denn, wenn sie drei, vier Frauen haben, die gegeneinander antreten, kommt sonst am Schluss ein Mann und räumt das Feld ab. Wir waren von Anfang in sehr engem Kontakt mit den anderen Rundfunkratsmitgliedern, haben sehr offen abgesprochen, was wir machen. Insbesondere mit der Kaktus-Gruppe, weil bei der auch der Wunsch sehr groß war, nach 70 Jahren Intendanten endlich mal eine Intendantin zu bekommen. Diese Gruppe hatte auch sehr aktiv selbst nach einer geeigneten Kandidatin gesucht.

Was für eine Gruppe?
Im BR-Rundfunkrat haben wir drei Gruppen. In der etwas Progressiveren sind die Umweltverbände, die SPD, die Grünen, auch die Schriftsteller*innen. Dann gibt es die konservative Gruppe. Und es gibt die Kaktus-Gruppe. Das ist eine sehr heterogene Gruppe mit den ganzen sogenannten „Politikfernen“. Am Schluss konnten wir eine sehr breite Mehrheit gewinnen, um gemeinsam hinter einer unserer Kandidatinnen zu stehen. 

Sie setzen sich nicht nur für weibliche Intendantinnen, sondern auch für mehr Frauen und generell mehr Vielfalt im Rundfunkrat ein. Seit Mai dieses Jahres tagt der neue BR-Rundfunkrat. Wie zufrieden sind Sie mit dessen Zusammensetzung?
Obwohl eine neue Periode begonnen hat, gab es keine Evaluierung der Zusammensetzung durch die Politik. An der Vielfalt hat sich deshalb im neuen Rat wenig geändert. Wir haben eine einzige Person, die nicht weiß ist. Das ist die Person, die die Migrationsverbände vertritt. Das macht zwei Prozent unserer Mitglieder. Vergleichen Sie das mal mit dem Migrationsanteil in der Gesellschaft. Der neue Rundfunkrat hat außerdem sechs Prozent mehr Frauen. Das ist nichts, was mich zufrieden macht. Von der Parität sind wir immer noch weit entfernt. 

Das Gesetz sieht eigentlich ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis vor. Trotzdem sind fast zwei Drittel der Mitglieder Männer. Wie kann das sein? 
Im Bayerischen Rundfunkgesetz findet sich leider nur eine Soll-Vorgabe. Ein Mann soll auf eine Frau folgen und andersherum. Das bedeutet aber auch, dass Frauen durch Männer ersetzt werden, was Quatsch ist, weil es der Parität überhaupt nicht hilft. Außerdem ist es möglich, sich mit einer einfachen Erklärung von dieser Vorgabe zu befreien. So wird es nie Parität der Geschlechter geben.

In anderen Rundfunkräten muss zumindest der Vorsitzende oder die Mehrheit der Gremienmitglieder solchen Ausnahmen zustimmen. Das ist bei Ihnen nicht der Fall?
Nein, ein formloses Schreiben darüber, dass man das passende Geschlecht gerade nicht zur Hand hat, genügt. Es gibt keinerlei Vorgaben. Ein rein eingeschlechtlicher entsendender Verband hat natürlich theoretisch nur ein Geschlecht zur Verfügung. Aber dass es so etwas gibt, halte ich für sehr unwahrscheinlich. Selbst Frauenverbände haben oft Männer in der Verwaltung. Und selbst wenn: In der Entscheidung, wen sie entsenden, sind die Verbände ja völlig frei. Niemand sagt, dass sie nur ihre Vorsitzenden schicken dürfen. Sie können genauso gut eine externe Person schicken.  

Der BR-Rundfunkrat gehört in vielerlei Hinsicht zu den am wenigsten diversen Gremien seiner Art: Er hat mit den geringsten Frauenanteil, mit den höchsten Altersdurchschnitt und viele gesellschaftliche Gruppen wie LSBTIQ* oder Muslim*innen fehlen. Was läuft schief in Bayern?
Da müssen Sie sich anschauen, wer in Bayern die Mehrheiten hat und die Mediengesetze macht. Das entscheidet nicht der Rundfunkrat, sondern die Mehrheiten im Landtag. Und die Landtage sind durch alle Legislaturen hinweg von einer sehr besonderen Partei geprägt, die es nur in Bayern gibt. Ich verstehe natürlich, dass es Menschen gibt, die konservativ sind. Aber bei einem so wichtigen Gremium zur Kontrolle eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist es meiner Meinung nach geboten, dass man eine breite gesellschaftliche Repräsentanz hat, um auch mehr Akzeptanz für das Medium in der Bevölkerung zu schaffen. Es wäre sehr hilfreich, auch mal zwei, drei 20-Jährige im Gremium zu haben, die auch wissen, wo man Instagram „empfangen“ kann. Es ist einfach wahnsinnig wichtig, dass viele unterschiedliche Menschen auf den Rundfunk blicken, um den Rundfunk zukunftsfest zu machen. Das betrifft auch die Bildungsstruktur. 

Welche Defizite sehen sie da?
Wenn ich mir die Lebensläufe der Rundfunkratsmitglieder einschließlich mir selbst anschaue, kann ich niemand entdecken, der zum Beispiel aus der handwerklichen Richtung kommt. Auch Personen aus Verkauf oder Pflege haben einen anderen Blick aufs Leben. Diese Perspektive müssen wir besser abbilden. Das kann auch bedeuten, dass wir uns mehr Expertisen von außen zum Beispiel durch Workshops hineinholen. 

Was muss noch passieren, damit der Bayerische Rundfunkrat irgendwann einmal die Realität der bayerischen Gesellschaft widerspiegelt?
Das Bayerisches Rundfunkgesetz, das in Art. 6 die Zusammensetzung des Gremiums regelt, muss sich ändern. Punkt. 

Sanne Kurz ist als Kamerafrau und Filmemacherin sowie Dozentin u.a. an der Filmhochschule HFF München. Seit 2018 sitzt sie für Bündnis90/Die Grünen im Bayerischen Landtag. Seit 2019 ist sie Mitglied des Rundfunkrates des Bayerischen Rundfunks.
 

Bendix Lippe, ZDF-Fernsehrat, Landesjugendring Brandenburg

„Diese Arroganz des Alters fuckt mich ab”

Mit 25 Jahren sind Sie nicht nur Jugendvertreter im ZDF-Fernsehrat, sondern auch eins der jüngsten Mitglieder in solch einem Gremium. Wie kam es dazu?
Als die Jugend, vertreten durch den Landesjugendring Brandenburg, im ZDF-Fernsehrat an der Reihe war, wollten sie nicht – wie andere es machen – einem altverdienten Mitglied einen Ehrenposten zuschieben. Stattdessen haben sie geschaut, wer wirklich zum Sitz passt. Ich war damals Vorstand bei der Jugendpresse in Brandenburg, hatte Medienmanagement studiert und mich viel mit dem Thema beschäftigt. So sind sie auf mich gekommen.

Der ZDF-Fernsehrat ist neben dem Rundfunkrat der Deutsche Welle das einzige Gremium, in dem es keinen eigenen Jugend-Sitz gibt. Stattdessen teilen Sie sich den Platz mit Familie, Frauen und Senior*innen. Wie funktioniert das?
Vorgesehen ist, dass sich die Gruppen alle vier Jahre abwechseln. Da dann jede Gruppe aber nur alle zwölf Jahre dran wäre, haben wir uns intern darauf geeinigt, schon nach zwei Jahren zu wechseln. Als ich anfangen sollte, hat sich die Vertreterin, die vor mir dran war, aber geweigert aufzuhören. Es gab ein großes Hin und Her, am Ende sie hat es trotzdem für vier Jahre durchgezogen. Deshalb durfte ich erst zwei Jahre später. So doof die Sache auch war, ich kann die Kollegin mittlerweile verstehen.

Wieso das?
Man braucht unfassbar lange, um sich einzuarbeiten. Ich hatte ganz gute Voraussetzungen, was das Verständnis der Branche angeht. Da ich mittlerweile in der Politik gelandet bin, weiß ich auch, wie solche Gremien funktionieren. Trotzdem merke ich, dass ich jetzt nach zwei Jahren erst so langsam angekommen bin. Nun muss ich aber schon wieder aufhören.

Die meisten Ihrer Kolleg*innen sind mehr als doppelt so alt wie Sie. Macht sich das in der Gremienarbeit bemerkbar?
Mein Kindheitsheld Thomas Gottschalk saß neulich für ein Interview bei der CDU-Fraktion in Hessen. Dort sagte er so etwas wie: „Wozu brauchst du da junge Leute? Du nimmst ja nicht irgendwen aus dem Club, sondern jemanden, der durch die Kaderlaufbahn gegangen ist.” Diese Arroganz des Alters fuckt mich ab. Personelle Repräsentanz ist wichtig. Ich würde mich niemals als Querschnitt aller jungen Menschen begreifen; ich bin auch Teil einer bestimmten Gruppe, wahrscheinlich sogar einer ziemlich privilegierten. Aber immerhin bin ich ein Teil der Jugend. Ich kann Fragen stellen und Perspektiven aufwerfen, die 50- oder 60-Jährige nicht so einfach haben.

Welche zum Beispiel?
Eines meiner ersten großen Themen war die Praktika-Vergütung. Man war im Sender ernsthaft damit zufrieden, dass Praktikant*innen 350 oder 400 Euro bekommen. Da habe ich gesagt: Hey Leute, hackt’s bei euch? Von 400 Euro kann ich mir, wenn überhaupt, nur mit viel Glück, eine Wohnung in Berlin leisten, genauso in Mainz. Damit schließt man ganze soziale Gruppen vom Journalismus aus, die eben nicht den finanziellen Hintergrund mitbringen – zumal ein Praktikum oftmals die Voraussetzung für ein Volontariat ist. Eine andere Frage ist: Wer guckt eigentlich ZDF und wie kann der ÖRR mehr junge Menschen erreichen? Das ist ein Thema, mit dem sich niemand gern beschäftigt, weil es schnell gruselig wird. Man konnte lange Zeit davon ausgehen, dass Menschen im Laufe ihres Lebens automatisch zum ÖRR zurückkommen. Aber dieser Effekt verschwindet langsam, die alten Menschen von morgen wachsen heute mit Streaming-Plattformen und Sozialen Netzwerken auf. Dieser Existenzfrage muss man sich irgendwann stellen, im besten Falle aber jetzt. Und das ist nur die junge Perspektive. Auch migrantische Perspektiven gehen verloren oder Perspektiven von Menschen, die wirtschaftlich nicht so gut aufgestellt sind.

Was muss sich ändern, damit diesen Perspektiven mehr Gehör geschenkt wird?
Ein Aspekt ist das Ehrenamt. Viele Mitglieder, besonders aus der Politik, haben Büros, die ihre Sitzungen vorbereiten. Genau wie viele andere Vertreter*innen zivilgesellschaftlicher Organisationen mache ich das neben meinem normalen Job. Wir bekommen normalerweise nicht einmal Urlaub für die Fernsehratstage. Stattdessen bekomme ich jede Weihnachten vom ZDF ein handgeblasenes Mainzelmännchen. Das kann ich dann an meine Schwiegereltern verschenken. Lieber wäre mir aber, man würde mit dem Geld, das man bei 60 Leuten allein an Porto sparen könnte, mal eine*n Gutachter*in bezahlen oder einen Workshop machen. Dazu bräuchte es aber einen Paradigmenwechsel beim Sender.

Wie soll der aussehen?
Die Sender sehen die Gremien als Pflichtprogramm, die irgendwie zufrieden gestellt werden müssen. Stattdessen müsste man verstehen, dass die Gremien nicht der Gegner sind, sondern die ideale Unterstützung: Wir liefern den Blick von außen. Bei uns haben Geschäftsleitung und Redaktionen die Möglichkeit, sich im besten Fall von der gesamten Bevölkerungsbreite die perfekte Programmkritik zu holen und ihr Programm zu verbessern. Diese Offenheit fehlt mir.

Bendix Lippe vertritt bis Juli 2022 die Gruppen „Senioren, Familie, Frauen und Jugend” im ZDF-Fernsehrat. Er arbeitet als Referent für strategische Kommunikation im Deutschen Bundestag. Zuvor war er Vorstandssprecher der Jugendpresse Brandenburg.

Khola Maryam Hübsch, HR-Rundfunkrätin, Muslimische Glaubensgemeinschaften Hessen

„Was fehlt ist ein Gefühl für Verschiedenartigkeit”

NdM: Wie divers ist der HR-Rundfunkrat? 
Hübsch: Wie in den meisten anderen Aufsichtsgremien ist der klassische alte weiße Mann auch hier gut vertreten, doch durch die neu eingeführte Regelung, dass auf jeden Mann eine Frau folgen sollte, ist die Besetzung nun geschlechterparitätisch. Man bemüht sich um Diversität und es ist ja auch eine gesetzliche Vorgabe, doch die Zusammensetzung müsste sich stärker den gesellschaftlichen Realitäten anpassen. Es ist gut, dass es seit 2017 eine Vertretung der Muslime im Rundfunkrat gibt. Aber es gibt zum Beispiel keinen Repräsentanten des hessischen Landesbehindertenbeirats. 

Woran macht sich die die fehlende Vielfalt noch bemerkbar? 
Zum Beispiel daran, dass das bei uns eine fast reine weiße Veranstaltung ist. Ich glaube auch, das Alter ist ein echtes Problem. Dass hier kaum jüngere Menschen vertreten sind, wirkt sich inhaltlich aus. Das liegt an den entsendeberechtigten Verbänden: Sie wählen als Repräsentanten eben eher jemanden, der bereits etabliert und in der Regel schon etwas älter ist. 

Halten Sie die Einführung der Geschlechterparität für eine gute Entscheidung? 
Ja, ohne die Regelung hätte sich wahrscheinlich nicht viel verändert. Die Regelung hat auch dazu geführt, dass der Rat etwas jünger geworden ist. Denn die jüngeren Mitglieder sind häufiger weiblich. Ehrlich gesagt glaube ich, dass einige entsendeberechtigte Stellen ohne diesen Druck keine Frauen in den Rundfunkrat geschickt hätten. Die Vorgabe, abwechselnd einen Mann und eine Frau zu entsenden, ist nicht zwingend, hat aber dennoch eine sichtbare Wirkung, das ist schon mal gut! 

Sie sind Mitglied der muslimischen Ahmadiyya Gemeinde, vertreten im Rundfunkrat aber die gesamte muslimische Bevölkerung Hessens. Wie halten Sie Kontakt zur Community? 
Wichtig ist: Als Mitglied des Rundfunkrats vertritt man nicht die Interessen der Organisation, die einen entsendet, sondern die Allgemeinheit. Das heißt auch, dass man als Repräsentant des Verbandes diesem keine Rechenschaft schuldig ist und diesem nicht loyal sein muss. Das gilt für alle im Rundfunkrat. Die vielfältige Besetzung des Gremiums soll zunächst nur sicherstellen, dass die Bandbreite des gesellschaftlichen Lebens im Rundfunkrat abgebildet wird. Trotzdem versuche ich, den Kontakt zu den anderen muslimischen Verbänden zu halten. Ich schicke regelmäßig Nachrichten an die einzelnen Vertreter, informiere sie, vor allem wenn irgendwas islamrelevantes los ist, aber auch zu allgemeinen Themen. Ich frage auch: Ist euch etwas aufgefallen an der Berichterstattung? Gibt es etwas, das euch stört? Dann nehme ich die Themen mit ins Gremium. 

Welche zum Beispiel?
Wir hatten den Fall Nemi El-Hassan, bei dem viel schiefgelaufen ist. Da habe ich mich schon gefragt: Was wäre, wenn das beim HR passiert wäre? Was kann man daraus lernen und für die Zukunft besser machen? Mein Eindruck ist, dass dieses Thema viele überfordert hat und man Angst hat, sich die Finger zu verbrennen und es daher lieber aussitzt. Die Nahostberichterstattung ist auch so ein schwieriges Thema. Letztendlich geht es darum, für bestimmte Perspektiven zu sensibilisieren. Generell gilt: Wenn man die Mehrheit im Rundfunkrat und auch den Intendanten nicht überzeugen kann, dann kann ein einzelnes Mitglied auch nicht viel verändern.  

Ist das ein Argument für die Aufnahme weiterer neuer Gruppen? 
Es wäre schon eine Überlegung, ob man nicht weitere Organisationen drin haben müsste. Die Gegenseite würde argumentieren, dass schon viele relevante Gruppen drin sind und auch schon neue dazugekommen sind. Aus meiner Sicht braucht es gar nicht unbedingt Vertreter von bestimmten Organisationen, sondern ein breiteres Verständnis von Vielfalt. Diversität darf nicht aus Image-Gründen zu einer PR-Strategie verkommen. Es muss klar werden, dass wir als Rundfunkanstalten nicht überlebensfähig sind, wenn wir es nicht schaffen, alle Menschen anzusprechen. Angesichts der Konkurrenz gibt es ein immer größeres Problem, Reichweite zu behalten und auszuweiten. Wer nicht versteht, wie wichtig ein wirkliches Gefühl für die Verschiedenartigkeit und das Aufzeigen unterschiedlicher Perspektiven ist, wird die Menschen nicht erreichen und früher oder später untergehen. 

Khola Maryam Hübsch arbeitet als Journalistin und Autorin. Im HR-Rundfunkrat vertritt sie seit 2021 die Muslimischen Glaubensgemeinschaften in Hessen.

Heiko Hilker, MDR-Rundfunkrat, DJV Sachsen

NdM: Seit 2022 tagt der MDR-Rundfunkrat in neuer Zusammensetzung. Ist das Gremium vielfältiger geworden?
Hilker: Letztes Jahr wurde der MDR-Staatsvertrag verändert, nachdem die Zusammensetzung fast 30 Jahre gleich geblieben war. Es gab ja Zeiten, da saß keine einzige Frau im MDR-Rundfunkrat. Sicher, der Rundfunkrat ist vielfältiger geworden. Doch verglichen mit anderen Gremien ist die Vielfalt beim MDR immer noch geringer. Mittlerweile gibt es für LBSTIQ*, Migranten, Sorben und Umweltverbände je einen Platz, doch Humanisten und Muslime sind nicht vertreten. Die Plätze für Frauen und Jugend sind mit je einem gleich geblieben. Dagegen können die drei Landtage neun Plätze besetzen, sechs werden von den Arbeitgeberverbänden, fünf von den Kirchen und drei von den Regierungen bestimmt.

Warum hat die Reform nicht zu noch mehr Repräsentation marginalisierter Gruppen geführt?
Dafür braucht man politische Mehrheiten. Bei Staatsverträgen müssen sich erst einmal drei Landesregierungen einigen. Diese brauchen dann noch für ihren Vorschlag eine Mehrheit in ihren Parlamenten. Für den MDR heißt es: Es müssen sich 13 Akteure einigen, von denen die CDU schon fünf stellt. Es ist schwer, eine größere Vielfalt zu schaffen, wenn die Zahl der Mitglieder nicht groß steigen soll, man ein Gleichgewicht zwischen verschiedenen Interessenträgern (Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände) herstellen will sowie Parteien wie die CDU die ihr nahestehenden Verbände weiter im Rundfunkrat sehen wollen. Es ist unüblich, ohne Not Macht und Einfluss aufzugeben. „Zum Glück” hatte das Bundesverfassungsgericht 2014 klare Regelungen zur Staatsferne der Gremien vorgegeben. Ansonsten wäre weniger geändert worden.

Die Mitgliederzahl ist eine Sache, Abstimmungsverhalten im Gremium eine andere. Sie sitzen seit 25 Jahren im MDR-Rundfunkrat. Wie staatsfern erleben Sie das Gremium?
Als 2011 die sächsische Staatsregierung ihren Favoriten für den Intendantenposten durchdrücken wollte, scheiterte sie krachend. Der Kandidat hatte nicht einmal ein Drittel der Stimmen. Doch solche Momente sind selten. Bisher habe ich es noch nicht erlebt, dass Regierungsvertreter im Gremium ihre politischen Vorstellungen direkt gegen die Geschäftsführung des Senders durchsetzen konnten. Allerdings haben Politiker aus Parlament und Regierung mehr Zeit und zum Teil auch Personal, sich in Themen einzuarbeiten. Zudem brauchen Intendantin und Direktoren im Rundfunkrat die Zustimmung einer Zwei-Drittel-Mehrheit. Wenn ein Land wie Sachsen 30 Jahre von der CDU regiert wurde und ein Staatssekretär der Regierung Vorsitzender der Landesgruppe ist, führt bei der Wahl kein Weg an ihm vorbei.

Liegt diese fehlende inhaltliche Beschäftigung auch an unterschiedlichen Zugängen der Gremienmitglieder zu Ressourcen?
Da haben Sie Recht. Das können Sie nur korrigieren, wenn die Gremienbüros personell aufgestockt werden. Beim MDR haben wir drei Mitarbeiter: Der eine betreut den Dreistufentest, die zweite organisiert vor allem die Sitzungen und erledigt Abrechnungen und dem dritten verbleibt ein Großteil der inhaltlichen Arbeit. Das ist natürlich viel zu wenig. Wir haben manchmal innerhalb von 14 Tagen drei, vier Sitzungen. Wenn dann noch ARD-Berichte mit 50 Seiten, ein Entwicklungsplan mit 100 Seiten und ein Wirtschaftsplan mit 200 Seiten auf der Tagesordnung stehen, sind die Mitarbeiter wie auch viele Gremienmitglieder überfordert. Da bräuchte es mehr personelle Unterstützung für die Rundfunkräte.

Was muss sich Ihrer Meinung nach noch ändern?
Die Möglichkeiten, über so einen Rundfunkrat etwas zu bewirken, sind generell gering. Das ist natürlich auch so gedacht. Journalistische Unabhängigkeit schließt aus, dass die Gremien genau beschließen, was in den Sendungen passiert. Allerdings brauchen wir auf jeden Fall ein Qualitätsmonitoring, extern und nach wissenschaftlichen Standards erstellt, das auch die Vielfalt prüft. In der Schweiz gibt es so etwas mit dem jährlichen Bericht zu „Qualität der Medien” schon. Den Bericht könnte man dann gemeinsam mit Intendanz und Verfassern auswerten. Das würde Minderheiten, aber auch das gesamte Gremium, stärken. Ehrenamtliche Mitglieder brauchen Unterstützung, um ihrem Auftrag gerecht werden zu können.

Heiko Hilker ist seit 25 Jahren Mitglied im MDR-Rundfunkrat – aktuell für den Deutschen Journalistenverband Sachsen.
 

Stefan Schenck, Landesbeirat für Menschen mit Behinderung Berlin

„Wir kämpfen seit über 20 Jahren für einen eigenen Sitz”

NdM: Sie fordern einen eigenen Sitz für Menschen mit Behinderung im RBB-Rundfunkrat. Wie lange bemühen Sie sich schon darum?
Schenck: Seit dem Jahr 2000 setzt sich der Landesbehindertenbeirat dafür ein. Das heißt seit über 20 Jahren kämpfen wir für einen eigenen Sitz. Wir haben uns an die Senatskanzleien und die medienpolitischen Sprecher*innen der Fraktionen gewandt. Wir haben Presseerklärungen gemacht. Es gab einmal eine Demonstration vor dem RBB-Rundfunkrat und vieles mehr. Schauen Sie, welche Parteien in Berlin in den letzten 20 Jahren die Regierungen in Berlin gestellt haben. Da sind fast alle Farben vertreten. Gehen Sie davon aus, dass wir alle angesprochen haben. Trotzdem ist der Erfolg bisher ausgeblieben.

Mit welchen Argumenten wurde Ihre Forderung abgewiesen?
Grundsätzlich stießen unsere Forderung erst einmal auf offene Ohren. Gleichwohl kam dann oft die Ausrede, dass die Interessen von Menschen mit Behinderung bereits vom Paritätischen Wohlfahrtsverband vertreten werden. Das ist in etwa so, als würde ein*e einzige Politiker*in alle Parteien und alle politischen Institutionen vertreten. Eine zweite Begründung war, dass man zwar bereit sei, uns aufzunehmen, dann aber auch viele andere Anspruchsgruppen aufnehmen müsse und damit der Rundfunkrat nicht mehr arbeitsfähig sei. So wurden wir immer wieder vertröstet bis wieder die nächste Amtsperiode verstrichen war.

Ein weiteres Gegenargument ist, dass doch bereits der Chef des Berliner Behindertenverbandes im Rundfunkrat sitze. Was halten Sie davon?
Das war die Entscheidung der Fraktion der Linken im Berliner Abgeordnetenhaus. Die hat eine gute Wahl getroffen, als sie Dominik Peter in den Rat entsandte. So sitzt ein versierter Mensch mit Behinderung im Gremium. Aber das ist eben nicht die offizielle Vertretung, die wir anstreben. Wir wollen trotzdem den dauerhaften im RBB-Staatsvertrag festgeschrieben Sitz, den wir dann im Wechsel mit dem Landesbehindertenbeirat Brandenburg besetzen werden.

Wozu eigentlich?
Inklusive Gesellschaft funktioniert nur, wenn Menschen mit Behinderung in allen Entscheidungsgremien direkt und von Anfang an beteiligt sind. Wenn der Landesmusikrat und der Landessportbund in diesen Gremien vertreten sind, muss auch die oberste Vertretung von Menschen mit Behinderung in Berlin bzw. Brandenburg vertreten sein.

Zuletzt stand die Überarbeitung des RBB-Staatsvertrages im Früjhahr 2021 auf der politischen Agenda. Dann wurde das Thema wieder auf unbestimmte Zeit verschoben. Im Frühjahr 2023 konstituiert sich bereits der nächste RBB-Rundfunkrat. Glauben Sie, dass es diesmal klappt?
Soweit ich weiß soll die Sache damals nicht an unserer Forderung, sondern wegen anderer Fragen verschoben worden sein. Mit den Wahlen hat sich nun wieder vieles geändert. In Berlin und Brandenburg haben wir überall neue Ansprechpartner*innen. Zuletzt haben wir sie im März angeschrieben, bisher aber noch keine Antwort bekommen. Aber ich bin Optimist genug, um zu glauben, dass es diesmal klappt.

Stefan Schenck ist stellvertretender Vorsitzender des Landesbeirats für Menschen mit Behinderung Berlin.
 

Christopher Schreiber, LSVD Berlin Brandenburg

„Wir wollen dazu beitragen, ein vielfältigeres Rundfunkangebot zu schaffen”

NdM: Zusammen mit dem Landesbeirat für Menschen mit Behinderung setzen Sie sich für mehr Vielfalt im RBB-Rundfunkrat ein. Wie kam es zu der Zusammenarbeit?
Schreiber: Derzeit sind im RBB-Rundfunkrat einzelne gesellschaftliche Gruppierungen gleich mehrfach vertreten, während andere Perspektiven vollständig fehlen. Wir orientieren uns hier am Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Darin sind sechs zu verhindernde Benachteiligungsgründe aufgeführt, wovon „Behinderung” und „sexuelle Identität” im Rundfunkrat bisher nicht abgebildet sind. Eine Zusammenarbeit bot sich deswegen an, zumal man gemeinsam immer stärker ist.

Wozu brauchen Sie eigentlich einen Sitz im Rundfunkrat? Was wollen Sie dort erreichen?
Wir machen das natürlich nicht nur, um einfach am Tisch zu sitzen oder um ein Stück vom Kuchen abzubekommen. Rundfunkräte haben großen Einfluss darauf, wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk gestaltet wird. Wir wollen dazu beitragen, ein vielfältigeres Rundfunkangebot zu schaffen. Das ist wichtig ist für die Sichtbarmachung unserer vielfältigen Gesellschaft.

Wie sieht ihr Engagement genau aus? Wen ruft man an, wenn man einen Sitz im Rundfunkrat möchte?
Wir haben uns zuletzt noch einmal an die beiden Landesregierungen und die queer- und medienpolitischen Sprecher*innen der Regierungsfraktionen im Abgeordnetenhaus und Brandenburger Landtag gewandt. Wir fordern, dass zur nächsten Amtsperiode im Jahr 2023 endlich ein vielfältig besetzter Rundfunkrat seine Arbeit aufnehmen kann. Grundsätzlich hört man natürlich oft, wenn man mit Politiker*innen spricht, dass die das alle wollen und dann passiert doch nichts. Aber ich nehme bei dem Thema doch eher Offenheit und keine ablehnende Haltung wahr.

Andere Gruppen, zum Beispiel Muslim*innen oder Sinti*zze und Rom*nja, scheinen schlechtere Erfahrungen zu machen. Wie stehen Sie zu deren Anliegen?
Es stimmt, dass man Vielfalt generell viel breiter denken muss. Da teile ich die Forderungen, die unser Thüringer Landesverband bezüglich des MDR-Rundfunkrates erhoben hat, dass zum Beispiel auch Sinti*zze und Rom*nja oder People of Color vertreten sein müssen. Wir haben mit dem Landesantidiskriminierungsgesetz in Berlin seit 2020 auch eine andere gesetzliche Grundlage. Dort wird zum Beispiel auch das Vielfaltsmerkmal „chronische Erkrankung” genannt. Auch Senior*innen sind im RBB-Rundfunkrat nicht vertreten. Angesichts des hohen Anteils an Menschen mit Migrationsgeschichte kann es auch nicht sein, dass nur eine Vertreter*in im Rundfunkrat sitzt. Das gilt übrigens nicht nur für den Rundfunkrat, sondern auch für viele andere Gremien.

Christopher Schreiber ist Geschäftsführer beim Lesben- und Schwulenverband Berlin-Brandenburg 

Derya Şahan, SWR-Rundfunkrätin, muslimische Verbände Baden-Württemberg

„Ich sehe mich in einer Brückenfunktion zwischen ÖRR und Muslim*innen”

Jürgen Bremer, ehemaliger WDR-Rundfunkrat, Deutsche Initiative für den Nahen Osten

„Warum nicht mal Fridays for Future?”

NdM: Sie kritisieren Rundfunkrät*innen für einen Mangel an Unabhängigkeit und Selbstbewusstsein. Worin begründet sich der? 
Bremer: Aus meiner Sicht hat das zwei Ursachen: Viele haben wenig Erfahrung vom eigentlichen Geschäft einer Rundfunkanstalt und kommen mit einem eher laienhaften Blick in das Gremium. Das ist einerseits gut, weil es vor Betriebsblindheit schützt. Andererseits ist die Gefahr groß, sich zu schnell auf die Vorgaben des Senders einzulassen. Der zweite Aspekt: Die Regelungen für die Aufsichtsgremien sind veraltet. Sie stammen aus dem 50er- und 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Wozu braucht ein Sender zwei Aufsichtsgremien, einen Verwaltungs- und einen Rundfunkrat?

Sagen Sie es uns.
Ich weiß es auch nicht. Diese Teilung ist ein Grund, warum viele Dinge in ihrer Gesamtheit weder von dem einen noch von dem anderen Gremium wahrgenommen werden.

Haben Sie ein Beispiel?
Nehmen wir das WDR-Filmhaus, das ist ein – mit mehr als 200 Millionen Euro projektierter Kosten  – sehr großes Vorhaben, dem der Rundfunkrat im Rahmen des Haushalts zustimmen muss. Es gab Alternativen. Die hat sich der Rundfunkrat erst gar nicht angesehen, sondern die Prüfung dem Verwaltungsrat überlassen. Ähnliches gilt für Talkshow-Verträge. Ich kenne mich da ganz gut aus, weil ich in meiner aktiven Zeit selbst für Talksendungen verantwortlich war. Ich weiß, was für ein Aufwand dafür notwendig ist und mir schienen die Kosten der ARD-Verträge sehr hoch zu sein. Aber der Rundfunkrat stützt sich vor allem auf das Votum des Verwaltungsrats, ohne selbst Einblick in die Kostengrundlage zu nehmen.  

Ist das auch ein Problem fehlender Transparenz? Viele Sitzungen finden hinter verschlossenen Türen statt.
Grundsätzlich sind die Sitzungen öffentlich, nur Teile sind nicht-öffentlich. Und das ist auch richtig so, wenn es um Verträge oder Personalia geht. Es gibt aber auch den Trend, unangenehme Dinge in den nichtöffentlichen Teil zu verschieben mit dem Hinweis, es könnten Geschäftsgeheimnisse zur Sprache kommen. Das ist problematisch, weil so die Öffentlichkeit manche Entscheidungen nicht nachvollziehen kann. 

Sehen Sie Unterschiede zwischen einzelnen Mitgliedern? Sind etablierte und erfahrene Mitglieder aus Politik oder Gewerkschaft vielleicht professioneller und selbstbewusster, während neue Vertreter*innen kleiner gesellschaftlicher Gruppen erst in ihre Aufgabe hineinwachsen müssen?
Da kann etwas dran sein. Aber auch bei den großen Verbänden gibt es nur zwei, drei Leute, die sich wirklich auskennen. Das Problem ist eher die Verknöcherung von Ansichten, wenn Personen zu lange Mitglied sind. Sie sind überzeugt davon, in den langen Jahren ihrer Gremien-Mitgliedschaft alles richtig gemacht zu haben. Das verhindert Veränderungen. Diese Versteinerung hat auch das Verfassungsgericht festgestellt und als Gegenmittel empfohlen, auch kleinere oder kleinste Vereine und Verbände alternierend zu berücksichtigen, damit auch neue Ideen eine Chance haben. Das war ein sehr guter Ratschlag der Verfassungsrichter.

Haben Sie jemand Bestimmtes im Kopf?
Es ist sicher ein fragwürdiges Defizit, dass es keine muslimische Vertretung im WDR-Rundfunkrat gibt. Man kann aber auch fragen: Warum nicht mal „Fridays for Future”, eine Bewegung, die einen großen Widerhall in der Bevölkerung erfährt. Warum nicht eine regionale oder lokale Flüchtlingsorganisation? Aber da man die Zahl der Gremienmitglieder nicht unendlich ausdehnen kann und will, müsste man bei den großen Verbänden streichen. Und da wird es schwierig, weil sie sich niemand mit ihnen anlegen will.

Auf wen könnten Sie am ehesten verzichten?
Wenn Sie sich den Rundfunkrat des WDR anschauen, sehen Sie eine große Zahl von Unternehmens-, Berufs- und Gewerkschaftsverbänden. Es wäre zu prüfen, ob sie alle gebraucht werden, um gesellschaftliche Vielfalt herzustellen.

Was halten Sie von der Regelung, einen Teil der Sitze nach jeder Amtszeit neu zu vergeben? Kann das zu mehr Vielfalt beitragen?
Ja, absolut. Große Verbände finden immer eine mediale Aufmerksamkeit und die Möglichkeit, ihre Vorstellungen in die Sender einzubringen. Das fehlt kleinen Vereinigungen. Im Rundfunkrat könnten sie mit ihren Sichtweisen für neue, für andere wichtige Themen sorgen. Die schwarz-gelbe Regierung hat die Zahl dieser Sitze leider von sieben auf fünf reduziert. Das halte ich für einen Fehler. Angebracht wäre eher eine Ausweitung der volatilen Sitze. Ich finde, es könnte sogar ein Drittel der Sitze auf diese Weise vergeben werden.

Was muss sich ihrer Meinung nach in Rundfunkräten noch ändern?
Das Gremium braucht mehr Input und mehr Kenntnisse von Abläufen in einem Rundfunksender und mehr Selbstbewusstsein gegenüber dem Haus. Das Gremium muss sich als konstruktive Aufsicht verstehen und nicht als Hilfsorgan des Intendanten. Beim WDR habe ich das Gefühl, dass sich da gerade etwas tut. Es gibt auch jetzt schon kritische Geister, die sagen: „Der Intendant ist Programmverantwortlicher, aber wir als Aufsichtsgremium setzen die Leitlinien.”

Jürgen Bremer arbeitete lange Zeit in verschiedenen Funktionen für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Unter anderem war er stellvertretender Leiter der Pressestelle des WDR, Redaktionsleiter und Leiter der Kommunikationsabteilung von Phoenix. 2011 wurde Bremer Professor für Medienrecht an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. Von 2016 bis 2021 saß er für die ‘Deutsche Initiative für den Nahen Osten’ im WDR-Rundfunkrat.