Gastbeitrag: Machtmissbrauch im Journalismus

Die größte Geschichte beginnt bei einem selbst

von Eva Hoffmann und Pascale Müller

Am 17. Oktober 2021 veröffentlicht die New York Times einen Artikel, der Machtmissbrauch und toxisches Führungsklima bei der BILD beschreibt. Mehrere Quellen geben darin an, mit Chefredakteur Julian Reichelt ein sexuelles Verhältnis gehabt und dadurch bessere Jobs bekommen zu haben. Aber auch unter Druck gesetzt und überfordert gewesen zu sein. Der Artikel nimmt auch Bezug auf eine Recherche der Journalistin Juliane Löffler zu den Vorwürfen gegen Reichelt, die im eigenen Verlag mit ihrer Redaktion Ippen Investigativ vor Veröffentlichung unter Beschuss geriet.   

Zwei Tage später muss der damalige Chefredakteur der BILD gehen. Der Skandal liefert den Stoff für die ganz große Mediengeschichte. Es ist ein Sturm. Wer daneben steht, kommt vielleicht zu dem Schluss: Das ganze Ausmaß von Sexismus und Machtmissbrauch in deutschen Redaktionen liegt nun offen. Aber der Fall Julian Reichelt ist symptomatisch für ein viel tiefer liegendes Problem.

Damit der Skandal öffentlich wurde, musste vieles zusammenkommen

Bei der Recherche zu den Vorwürfen gegen den ehemaligen BILD-Chefredakteur kam vieles zusammen, was eine Veröffentlichung begünstigt hat: Quellen, die bereit waren, ihre Erfahrungen zu schildern. Eine Reporterin und ihr Team, die hartnäckig dran geblieben sind. Ein äußerst prominenter Beschuldigter. Ein Medienskandal.

Diese Faktoren haben dazu beigetragen, dass die immensen Widerstände, mit denen jede #Metoo-Recherche zu kämpfen hat – Einschüchterung der mutmaßlich Betroffenen, rechtliche Angriffe, Täter-Betroffenen-Umkehr – überwunden wurden. 

In den meisten Recherchen zu diesem Thema liegen die Dinge nicht so. Manche Missstände werden nie öffentlich. Nicht, weil sie nicht da oder weil sie nicht schlimm sind. Sondern, weil Recherchen über die Medienbranche nicht frei von den Machtverhältnissen sind, die sie zum Gegenstand haben.

Schleppnetze voller unveröffentlichter Erfahrungen

Jede Kollegin, die zu diesem Thema recherchiert, hat ein solches Schleppnetz an unveröffentlichten Erfahrungsberichten, das sie hinter sich herzieht. Manchmal sind die Quellen in einer Verfassung, die keine Veröffentlichung zulässt. Manchmal haben sie zu große Angst. Manchmal gibt es rechtliche Bedenken. Manchmal gibt es aber Entscheidungsträger*innen, die keine Kenntnis darüber haben, was Machtmissbrauch und Diskriminierung eigentlich sind und warum es von öffentlicher Relevanz ist, darüber zu berichten. 

So enden diese Schilderungen in einem Notizblock einer Reporterin (es sind fast nur Frauen, die hierzu recherchieren). Dort liegen sie und wir können – weil wir ja nicht darüber schreiben können – auch nicht deutlich machen, dass der deutsche Journalismus ein riesiges, größtenteils unbesprochenes Problem hat.

Sprechen über übergriffiges Verhalten muss Normalität werden

Wenn uns der Weg über die „große Öffentlichkeit“ versperrt ist, bleibt uns aber noch die „kleine Öffentlichkeit“: Wir müssen es als Branche schaffen, dass das gemeinsame Sprechen über übergriffiges Verhalten normalisiert wird. Wir müssen es schaffen, ​​solchem Verhalten vorzubeugen, es zu erkennen und zu sanktionieren.

Was muss sich dafür ändern? Verantwortliche in Verlagen, Sendern und Redaktionen müssen anerkennen, dass Sexismus, Rassismus, Queerfeindlichkeit und andere Formen der Diskriminierung keine Probleme der anderen sind. Solange sich Redaktionen allerdings vor allem freuen, dass der letzte Skandal die Konkurrenz betroffen hat, ist niemandem geholfen.
 

Toxische Führungskultur gibt es nicht nur bei BILD

In vielen Chefetagen führender Redaktionen scheint das Bewusstsein gegenüber struktureller aber auch aktiver Diskriminierung weiterhin zu fehlen. Das zumindest haben uns zahlreiche Gesprächspartner*innen während einer der Recherche geschildert, die wir im Mai im Medium Magazin veröffentlicht haben.

Es geht nicht nur um den ehemaligen Chefredakteur der BILD. Toxische Führungskultur, die mit Mobbing und Einschüchterung arbeitet, Sexismus und andere Formen der Diskriminerung sind in deutschen Medien weit verbreitet. Das hat unsere Recherche gezeigt. In weniger als einer Woche meldeten sich auf eine Umfrage, die Erfahrungen mit Führungskultur abfragte, 189 Journalist*innen und schilderten ihre Erlebnisse in deutschen Print-, Online-, Hörfunk- und Fernsehredaktionen. 

Es geht um Vorgesetzte, die jüngeren Kolleginnen an den Hintern fassen. Redakteure, die Schwarze Kolleginnen rassistisch beleidigen. Frauen, die wegen Sexismus und Übergriffigkeit den Traum aufgeben, Journalistin zu werden. Die schreiben: „Ich bin leiser geworden, schlage bestimmte Themen nicht mehr vor. Spreche Probleme nicht mehr offen an. Mein Selbstbewusstsein hat stark gelitten. Der Job, der immer mein Traum war, fühlt sich eher wie ein Albtraum an.“ Kaum eine Redaktion ist frei von Problemen.

Der deutsche Journalismus braucht Nachhilfe

Redaktionen, Sender und Verlage müssen dringend Strukturen schaffen, die allen ihren Beschäftigten ein sicheres Arbeitsumfeld bieten. Zum Beispiel…

  • indem sie eine Beschwerdestelle einrichten, die als vertraulich und unabhängig wahrgenommen wird, die allen Mitarbeitenden bekannt und niedrigschwellig zugänglich ist und deren Kontakt statt versteckt auf einer Unterseite im Intranet gut sichtbar auf allen Toiletten hängt. 
  • indem sie es zur Selbstverständlichkeit machen, dass neuen Mitarbeiter*innen bei der Einführung gesagt wird, an wen sie sich wenden können, wenn sie Sexismus, Rassismus oder andere Formen von Diskriminierung erleben.
  • indem sie anonyme Briefkästen einrichten und Beschwerden als wertvolle Möglichkeit gesehen werden, etwas zu verändern. 

Es gibt Trainer*innen für kritisches Weißsein, Anti-Sexismus-Trainer*innen, die Redaktionen, Sender und Verlage engagieren können. Der deutsche Journalismus sollte anerkennen, dass er in diesem Bereich Nachhilfe braucht.

Jede*r muss sich fragen: Tue ich selbst genug?

Und zuletzt sollte sich jede*r befragen: Tue ich selbst genug, damit sich meine Kolleg*innen in meiner Redaktion wohl und sicher fühlen? Bei vielen Situationen, die uns Personen während der Recherche für das Medium Magazin geschildert haben, waren andere mit im Raum. 

Etwa, als ein Redakteur der Lokalzeitung einer Volontärin während einer Geburtstagsfeier an das Gesäß gefasst haben soll. Oder als ein Kamerateam aus dem Aufzug eines öffentlich-rechtlichen Senders austieg, als eine Kollegin dazukam, mit der Bemerkung, man wolle nicht mit einer Lesbe Aufzug fahren. 

Wenn Kolleg*innen bedrängt, belästigt und beleidigt werden, dürfen wir nicht wegschauen. Vor allem Personen, die aufgrund ihrer Position in der Redaktion weniger Sorge vor Konsequenzen haben müssen, sollten sich schützend vor weniger privilegierte Kolleg*innen stellen.

Bei sich selbst anfangen, statt nach dem großen Coup zu jagen

Als Branche müssen wir dieses strukturelle Problem anerkennen. Und anders darüber berichten. In der brancheninternen Berichterstattung sollte es nicht nur darum gehen, den nächsten Julian Reichelt abzusägen, den ganz großen Coup zu landen. 

Das Problem zu individualisieren lenkt von der eigentlichen Herausforderung ab: Wer angemessen über strukurelle Diskriminierung berichten will, muss mitunter bei sich selbst anfangen. Das wäre dann wirklich eine einzigartig große Geschichte.

Pascale Müller ist freie Investigativjournalistin. Sie recherchiert vor allem zu Arbeitsausbeutung und sexualisierter Gewalt. Eva Hoffmann schreibt als freie Journalistin über soziale Ungleichheit, Sexismus und Migration. Beide sind Mitglied des Selbstlaut Kollektiv.

Tipps und Tools für mehr Respekt am Arbeitsplatz

NdM-Notfallkit für Journalist*innen in akuter Bedrohungslage

Anonym geäußerter Hass im Netz und menschenfeindliche Parolen können sich schnell zu einer echten Gefahr für Leib und Leben entwickeln. Von ernstzunehmenden, persönlichen Bedrohungen betroffen sind unter anderem Medienmacher*innen, die diskriminierten Gruppen angehören, aber auch alle anderen Journalist*innen, die zu Themen wie Rechtsextremismus arbeiten, von Demonstrationen berichten usw.

Die Broschüre „Leitfaden für bedrohte Journalist*innen in Deutschland“ bietet einen Überblick darüber, was im Notfall zu tun ist, welche Schritte sinnvoll und wichtig sind, wenn man als Medienmacher*in eine konkrete Drohung erhält. Ebenfalls können Medienhäuser hier nachlesen, wie sie akut bedrohte Journalist*innen unterstützen sollten.

Helpdesk gegen Hass

Die bestmögliche Strategie gegen Hassrede für Journalist*innen, Redaktionen und fürs Community-Management haben die Neuen deutschen Medienmacher*innen gemeinsam mit Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen analysiert und aufgearbeitet. Das Ergebnis ist ein Online-Helpdesk mit vielen praktischen Tipps, den wirkungsvollsten Strategien, rechtlichen Einordnungen und konkreten Fallbeispielen zum Umgang mit Hate Speech.

Hilfe bei Diskriminierung in Redaktionen

von NdM & advd

Infos und Unterstützung für Betroffene bieten die NdM in Zusammenarbeit mit dem Antidiskriminierungsverband Deutschland (advd) in der Broschüre „Was Du über Diskriminierung in Redaktionen wissen solltest“ sowie online unter: www.neuemedienmacher.de/diskriminierung/

 

Workshops

Kostenlose Fortbildungen für Medienschaffende bietet unser Projekt NO HATE SPEECH. Haben wir mal keine Zeit, können wir auf unseren Train-the-Trainer-Pool zurückgreifen: Darin finden sich Journalist*innen, die von uns in diesem Themenfeld geschult wurden und lokal gut erreichbar sind. Für weitere Infos schreiben Sie uns gern an.

HateAid hilft

Nur ein bis vier Prozent aller Betroffenen von Hate Speech zeigen die Täter*innen an. Und noch weniger ziehen vor Gericht. Die Gründe: Die Prozesse dauern lange, sind aufwändig und vor allem teuer. Das will HateAid ändern. HateAid unterstützt Angegriffene mit emotional-stabilisierenden Beratungsgesprächen, erstattet Strafanzeigen, hilft bei der Beweissicherung, finanziert Anwält*innen und übernimmt das Prozesskostenrisiko. Im Gegenzug spendet die*der Betroffene ihren*seinen Schadensersatz oder Schmerzensgeld an HateAid zurück und ermöglicht so die Unterstützung weiterer Betroffener.

Selbstfürsorge

Das Dart Center for Journalism and Trauma ist ein Projekt der Columbia Journalism School. Es setzt sich für mehr Verständnis und ein tieferes Bewusstsein für die Auswirkungen von Trauma unter Medienschaffenden ein und begegnet dem Thema Hass im Netz mit einem Appell an Journalist*innen zur Selbstfürsorge. Die Website des Centers bietet viele Informationen und Tipps.

Gastbeitrag: Altersdiskriminierung

Divers heißt alles – nur nicht alt sein

von Silke Burmester

Ich muss Ende 40 gewesen sein, als ich darum bat, dass mein Alter nicht länger in der Autor*innenzeile genannt würde. Die Nachfrage, warum nicht, ging stets mit einem Erstaunen einher. Die Antwort wurde dann mit vollstem Verständnis quittiert. Wäre bekannt, wie alt ich sei, so sagte ich den Redakteur*innen, würde ich für viele Texte nicht mehr gebucht. Vor allem Zeitschriften wollen hip sein. Kauft man sie, soll man sich am Puls der Zeit fühlen. Eine hippe Welt, dargelegt von hippen Schreiber*innen.

Auf die 50 zuzugehen, ist schlicht ein Killer. Man muss nur das Foto der Präsentation der neuen Führungsriege des „Stern“ aus dem Juni 2021 angucken. 27 Personen. Frauen ü50? Maximal zwei. Kolleginnen, die über Jahrzehnte für die sogenannten Frauenzeitschriften gearbeitet haben, finden mit Themen, die sie jetzt interessieren, keinen Anklang mehr. Die Redaktionen wollen andere Geschichten. Sie sollen positiv sein. Rat gebend, helfend.

Kaum noch eine steigt ab 50 auf

Der Umstand, dass Aufstieg und Karriere in der Regel um 40 stattfinden und kaum noch ab 50, trifft alle Geschlechter. Aber es ist davon auszugehen, dass mehr Männer in dem Alter noch befördert werden als Frauen. Es scheint dazu keine Zahlen zu geben. Doch warum sollten die Mechanismen, die Frauen ausklammern, ab 50 nicht mehr gelten? Zumal es Frauen, die „sichtbar“ agieren, besonders hart trifft.

Im Jahr 2012 hat der WDR auf einen Schlag mehrere Frauen vom Schirm genommen, die um die 50 Jahre alt waren. Es war in etwa dieselbe Zeit, in der Thomas Roth Moderator der Tagesthemen wurde. Er war damals fast 62 Jahre alt.

Auch im Sommer 2021 gab es unter dem 62-jährigen WDR-Intendanten Tom Buhrow ähnliche Rausschmisse, man wolle „diverser“ werden. Divers, die neue Zauberformel, heißt alles – LSBTIQ*, Schwarz, blau, gestreift, ein Arm, drei Arme, aber nicht „alt“.

Im Oktober 2020 habe ich zusammen mit anderen Frauen die Onlineplattform www.palais-fluxx.de gestartet, „Leuchten für Fortgeschrittene“. Einstiegsalter: 47 Jahre. Es geht darum, uns und unseren Themen Raum zu geben.

Denn so großartig es ist, dass Diversity jetzt in den Redaktionen angekommen ist, so unglücklich ist es, dass der Wille, Vielfalt abzubilden, beim Thema „Alter“ aufhört. Uns Journalistinnen trifft dieser Umstand zweifach: dadurch, im Beruf kaum noch Aufstiegs- und Entwicklungsmöglichkeiten zu haben und dadurch, dass die Themen, die wir stellvertretend für ältere Frauen erzählen könnten, in den Redaktionen nicht gefragt sind.

Silke Burmester war mehr als 25 Jahre als Journalistin, Kolumnistin, Buchautorin und Dozentin tätig. Jetzt moderiert sie Podien und Veranstaltungen und hat www.palais-fluxx.de, „Leuchten für Fortgeschrittene“ gegründet, eine Onlineplattform für die Sichtbarkeit von Frauen* ab 47.