Vorbilder gesucht

Wie wichtig Diversität für die Zukunft ihrer Medien ist, wissen die meisten Entscheider*innen längst selbst. Das spüren wir einerseits an den zahlreichen Anfragen, die uns täglich erreichen. Das zeigen uns andererseits auch die Bekenntnisse für Vielfalt, die mediale Entscheider*innen regelmäßig öffentlich ablegen.

2020 haben die Neuen deutschen Medienmacher*innen eine Umfrage mit 126 Chefredakteur*innen der reichweitenstärksten Medien in Deutschland durchgeführt und festgestellt, dass sich so viele von ihnen mehr Vielfalt in ihren Redaktionen wünschen wie nie zuvor. Zwei Drittel derjenigen, die geantwortet hatten, unterstützen eine entsprechende Resolution des DJV. Nur weniger als zehn Prozent lehnten sie ab. Viele Medienhäuser bekannten sich auch auf anderem Weg zu mehr Vielfalt in ihren Redaktionen.

Diversität auf allen Ebenen

In vielen Medienbetrieben kommt die Initiative für Veränderungen auch aus der Belegschaft, immer häufiger von Volontär*innen. Das ist gut. Doch für zeitgemäßen Journalismus mit Diversität auf allen Ebenen braucht es Ansagen von ganz oben.

Es sind die Chefredakteur*innen, Ressortleiter*innen und Geschäftsführer*innen in einem Medienunternehmen, die Ressourcen bereitstellen, notwendige Entscheidungen treffen und mit gutem Beispiel vorangehen müssen.

Gastbeitrag: Diversity Management

Vielfalt hat Priorität

von Niddal Salah-Eldin

Führungskräfte haben die Aufgabe, nicht nur die Gegenwart zu bewältigen, sondern auch Weichen für eine erfolgreiche Zukunft zu stellen. Die Gesellschaft wird immer vielfältiger, das muss sich auch in Medienhäusern und überall dort, wo Entscheidungen gefällt werden, widerspiegeln.

Neu ist diese Forderung nicht. Vielfalt in Herkunft, Milieus und Fähigkeiten sorgt dafür, dass andere Fragen gestellt werden, man nicht immer die gleichen Antworten findet und nicht immer dieselben Fehler macht. Vielfältige Teams sind nachweislich innovativer und erfolgreicher. Monokulturen haben keine Zukunft.

Expertise, die nichts mit Herkunft zu tun

Es geht neben Vielfalt auch um Inklusion, um echte Teilhabe, um einen Platz am Entscheidungstisch. Menschen mit Migrationsbiografie sind nicht nur da, wenn es mal wieder einen Rassismusskandal zu besprechen gibt.

Ob Digitalexpert*innen, Software-Entwickler*innen, Tech-Reporter*innen oder Popkultur-Dolmetscher*innen: Wir haben auch eine Expertise, die nichts mit unserer Herkunft zu tun hat und bringen diese auch gerne jenseits von Integrationsdebatten ein. Echte Vielfalt und Teilhabe gibt es nur, wenn wir nicht künstlich auf einen Themenbereich reduziert werden.

Mehr als Nice-to-haves

Vielfalt und Inklusion sind für Unternehmen der Gegenwart und Zukunft keine Nice-to-haves mehr. Das Ziel für 2021 muss es sein, das Thema nach Jahren der Lippenbekenntnisse und Absichtserklärungen ernsthaft zu verfolgen und strategisch zu verankern. Warum das Thema nicht mal in die Zielvereinbarung fürs Topmanagement schreiben, wie das in einigen internationalen Unternehmen gemacht wird? So wird zusätzlich ein Anreiz geschaffen.

Es geht jetzt darum, ins Machen zu kommen: Bestandsaufnahmen erstellen, eine Strategie entwickeln, Ziele formulieren und nachhalten. So wie man das bei anderen Top-Prioritäten auch tun würde. Das geht nur, wenn man Vielfalt und Inklusion zur Chef*innensache macht und andere dafür gewinnt. Nur so kann es gehen!

Niddal Salah-Eldin ist digitale Medienmanagerin und hat unter anderem als Vize-Chefredakteurin der dpa den Produkt- und Innovationsbereich verantwortet. Zuvor hat sie bei der WELT die digitale Innovation vorangetrieben. Seit 2021 leitet sie als Managing Director die neue Freetech Academy für Journalismus und Technologie.

Wir brauchen eine Phase, in der wir uns damit befassen, wie sich Diskriminierungserfahrungen für unsere Leute anfühlen. Das ist anstrengend, denn man muss schwierige und ehrliche Gespräche über Ethnizität (race) und unbewusste Vorurteile (unconscious bias) führen. Aber diese Probleme anzuerkennen ist der größte Schritt auf dem Weg zu einer Lösung. Wenn sie solche Gespräche führen wollen und Mitarbeiter*innen sich öffnen sollen, müssen sie geschützt werden. Man muss sicherstellen, dass sie keine Angst haben, deswegen ihren Job zu verlieren. Das braucht vor allem Vertrauen. Und es braucht Führungskräfte, die sich verletzlich zeigen, die selber offen und ehrlich über solche Erfahrungen sprechen – bevor sie von Mitarbeiter*innen erwarten, dass sie dasselbe tun.
Miranda Wayland, Leiterin „Creative Diversity“, BBC

An großen Diversity-Versprechen mangelt es in Deutschland nicht

Alle Öffentlich-Rechtlichen (zum Beispiel BR, hr, MDR, NDR, Radio Bremen, rbb, SR, SWR, WDR, ZDF und Deutsche Welle) und private Medien wie die ProSiebenSat.1 Group oder die Mediengruppe RTL haben schon vor Jahren die „Charta der Vielfalt“ unterzeichnet. Damit verpflichten sich die Unternehmen zu einer Firmenkultur frei von Vorurteilen und Ausgrenzung und zu Wertschätzung und Respekt für alle Mitarbeiter*innen – unabhängig von Geschlecht, Nationalität, ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexueller Orientierung.

In einem Positionspapier von 2006 nahmen sich ARD-Intendant*innen vor, „den Alltag der Menschen aus Zuwandererfamilien als Teil der gesellschaftlichen Normalität abzubilden“ und dabei die Chancen einer kulturell vielfältigen Gesellschaft glaubwürdig zu vermitteln, ohne ihre Probleme und Risiken zu negieren.

Im Rahmen des „Nationalen Aktionsplans Integration“ der Bundesregierung von 2012 haben sich öffentlich-rechtliche und zahlreiche private Medien zu Diversity-Maßnahmen verpflichtet.

Im November 2020 hat die ARD ihren ersten Nachhaltigkeitsbericht vorgestellt. Dort schreibt sie, sie wolle „interkulturelle Vielfalt als wesentlichen Baustein des Personalmanagements etablieren“. Die verschiedenen Anstalten könnten sich in einer „AG Kulturelle Vielfalt/Diversity“ zum Thema austauschen. Auch das ZDF schreibt in seiner Satzung, „der gesamtgesellschaftlichen Integration“ dienen zu wollen.

Initiiert von der Bremischen Landesmedienanstalt hat sich Ende 2020 das Bündnis „Medien für Vielfalt“ mit Vertreter*innen vieler Funkhäuser zusammengetan.

2021 gab sich der SRF neue „Publizistische Leitlinien”, in denen er Diversität zum „journalistischen Qualitätskriterium” erklärt. Ziel sei es, „die Gesellschaft in der Schweiz in ihrer ganzen Diversität hör- und sichtbar” zu machen.

Gastbeitrag: Frauen in Führungspositionen

Vielfalt für alle

von Edith Heitkämper

Die Situation von Frauen im Journalismus hat sich in den letzten Jahren nur langsam verbessert. Zwar arbeiten in den meisten Redaktionen Frauen und Männer gleichberechtigt nebeneinander, der journalistische Nachwuchs ist oft weiblich. Wenn es aber an die Führung geht, sind Frauen klar im Nachteil.

Der Verein „ProQuote Medien“ zählt seit mehr als acht Jahren den Anteil von Frauen in journalistischen Führungspositionen. Dabei werden halbjährlich acht Leitmedien aus Print und Online betrachtet, darunter Spiegel, Stern, Zeit oder Süddeutsche Zeitung. Der Machtanteil von Frauen – das ist die gute Nachricht – hat sich seit der ersten Zählung 2012 im Schnitt immerhin von 13,7 Prozent auf 34,1 Prozent mehr als verdoppelt.

Zwei Drittel sind in Männerhand

Doch das heißt auch: Heute sind noch rund zwei Drittel der Führungspositionen fest in Männerhand. Bei „Bild“, „Welt“, der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und “Focus” haben Männer sogar drei von vier Spitzenpositionen inne.. Das ist weit entfernt von Diversität und einem gerechten Frauenanteil.

In weiten Teilen des Journalismus sieht das nicht besser aus. ProQuote hat in zwei großen Medienstudien die Situation von Frauen in den Führungsetagen beleuchtet – im Jahr 2018 in den öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunkanstalten, im Folgejahr in zahlreichen Print- und Onlinemedien deutschlandweit.

Frauen leiten Frauenzeitschriften, Männer alle anderen

Die Ergebnisse: Einige wenige Rundfunkanstalten wie rbb (51,0%) oder die Deutsche Welle (51,9%) erreichen eine ausgeglichene weibliche Teilhabe an Spitzenpositionen. Die meisten Sendeanstalten sind aber klar männerdominiert mit einem Frauenanteil von knapp einem Drittel. Einige, wie der Saarländische Rundfunk (25,6%) und Deutschlandradio (24,3%) und private Rundfunkanstalten wie die RTL Mediengruppe (21,4%) schneiden noch schlechter ab.

In den Print- und Onlinemedien ist der Einfluss von Frauen in den Führungsetagen, je nach Bereich, unterschiedlich groß. Bei den Publikumszeitschriften liegt die Frauenmacht in den Chefredaktionen bei erfreulichen 48,9 Prozent. Allerdings zeigen sich Unterschiede in den Segmenten:

Frauenzeitschriften und Hefte mit Schwerpunkten wie Haus und Garten oder Unterhaltung werden größtenteils von Frauen geleitet. Redaktionen mit Schwerpunkten Wissen und Technik, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft stehen meist unter männlicher Führung. Und digital sieht es kaum besser aus: In den 100 reichweitenstärksten redaktionellen Onlineangeboten beträgt der weibliche Führungsanteil im Durchschnitt 30 Prozent.

Wenig divers: Regionalzeitungen

Erschreckend sind die Ergebnisse bei den 100 untersuchten Regionalzeitungen. Sie erweisen sich als die größte Männerdomäne. Von den 108 Stelllen in Chefredaktionen sind lediglich 8 weiblich besetzt, ein Frauenanteil von mageren 7,4 Prozent. In den Regionalzeitungen herrscht demnach die geringste Diversität in den Führungspositionen.

Um mehr Geschlechtergerechtigkeit durchzusetzen, fordert der Verein – wie sollte es anders sein – eine Quote. „Wir sind die Hälfte, wir wollen die Hälfte“, so der Slogan. Das Wort „Quote“ polarisiert. Doch was längst selbstverständlich sein sollte, lässt sich anders als mit einer Quote nicht in absehbarer Zeit verwirklichen – außer, man strebt die Parität in den Chefetagen erst 2053 oder gar in der ersten Hälfte des 22. Jahrhunderts an. Denn so lange würde es – je nach Rechenmodell – dauern, wenn es für Frauen im jetzigen Tempo weiterginge.

Was wurde schon erreicht?

Einiges aber hat sich schon geändert, seitdem ProQuote Medien gegründet wurde: nicht zuletzt die öffentliche Wahrnehmung des Problems. Inzwischen wird über gleiche Chancen für Frauen und Männer im Journalismus gesprochen, zum Beispiel beim Thema Equal Pay. ProQuote Mitglied Birte Meier hatte Erfolg bei ihrer Klage gegen das ZDF wegen ihrer ungerechten Entlohnung im Vergleich zu den männlichen Kollegen.

Bei Twitter oder Instagram werden weibliche Führung und Quote viel diskutiert. Dennoch: Der berühmte „Thomas-Kreislauf“, bei dem Chef Thomas eine jüngere Kopie seiner selbst auf einen Posten hebt, ist auch in den Medien weiterhin gängige Praxis. Die Diagnose von ProQuote: Immer noch zu viele Quotenmänner in den Führungsetagen – und zu wenige Quotenfrauen, die diesen Titel mit Stolz und Selbstbewusstsein tragen.

Was alle für mehr Diversity tun können

Auf dem Weg zu einem gerechteren, diverseren Journalismus kann jede*r etwas tun. Frauen sollten einander in Redaktionskonferenzen unterstützen. Sich bewusst gegenseitig loben, ja geradezu „Lobekartelle“ bilden. Auf der Suche nach Expert*innen in journalistischen Beiträgen können Journalist*innen gezielt Frauen ansprechen.

ProQuote Medien hat unter dem Hashtag #Coronaexpertin eine Liste mit Wissenschaftlerinnen angelegt, um Redaktionen bei der Suche zu unterstützen. Frauen eine Stimme geben, sei es in der Redaktion oder außerhalb – ein erster Schritt zu mehr Wahrnehmung, zu Gleichberechtigung und Diversität.

Edith Heitkämper ist Vorsitzende des Vereins ProQuote, der sich für eine 50-prozentige Frauenquote in den Führungspositionen von Medien einsetzt. Außerdem arbeitet sie als Redakteurin beim Gesundheitsmagazin Visite im NDR Fernsehen und schreibt über Medizin- und Gesellschaftsthemen für Stern, Brigitte und Psychologie Heute.

Checkliste für Entscheider*innen: 10 Schritte für mehr Vielfalt

 

1. Vielfalt kommunizieren

Chefredakteur*innen, denen es wichtig ist, dass sich in ihrer Redaktion alle gesellschaftlichen Gruppen wiederfinden, sollten das auch klar kommunizieren. Wenn alle Mitarbeiter*innen wissen, dass es von oben ernsthaft gewollt ist, Kolleg*innen mit unterschiedlichen Hintergründen oder Lebenserfahrungen zu gewinnen und eine diskriminierungsarme Berichterstattung zu erreichen, dann bekommen sie die nötige Rückendeckung, um diese Ziele auch gegen alte Gewohnheiten umzusetzen.

Alle, die diese Ziele ohnehin teilen, werden darin bestätigt und anerkannt – es sind oft mehr Kolleg*innen, als man denkt.

2. Vorbild gesucht

Sie wollen ein Klima des Respekts und der gegenseitigen Wertschätzung? Dann leben Sie es vor! Die Kultur in einer Redaktion wird nicht nur, aber entscheidend von Vorgesetzten und Autoritätspersonen geprägt. Sie geben vor, welcher Umgang und Ton im Betrieb akzeptiert ist.

Ein*e Chef*in, der*die selbst diskriminierende Bemerkungen macht, sendet auch ein Signal an die Mitarbeiter*innen, dass man es mit dem Respekt gegenüber bestimmten Gruppen in der Redaktion nicht so genau nehmen muss. Andersherum färbt eine Führungskultur, die von gegenseitiger Achtung und Wertschätzung geprägt ist, schnell auf die gesamte Redaktion ab.

3. Es braucht Diversity-Beauftragte

Hauptamtliche Integrationsbeauftragte oder auch „Diversity-Officer“ sind in vielen US-amerikanischen und britischen Medienunternehmen längst selbstverständlich, in deutschen Medienhäusern findet man sie dagegen nur in Ausnahmen. Gleichstellungsbeauftragte sind zwar längst die Regel, aber eigene Stellen für „Integration und kulturelle Vielfalt“ im öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt es bisher nur beim WDR und SWR.

Diversity-Beauftragte sollten:

  • die Federführung übernehmen für Projekte, die Vielfalt im Unternehmen vorantreiben,
  • zusammen mit allen Ressorts und Verantwortlichen funktionierende Diversity-Konzepte erarbeiten,
  • die Einhaltung verabredeter Ziele kontrollieren,
  • als Expert*in zu Fragen von Diversität fürs Haus, aber auch für die Öffentlichkeit zur Verfügung stehen.

Um erfolgreich arbeiten zu können, müssen diese Stellen auch mit den nötigen Mandaten, Budgets und Befugnissen ausgestattet sein und den Job nicht zusätzlich zu anderen Aufgaben machen müssen. Zudem braucht es Ansprechpartner*innen für Fälle von Diskriminierung in der Redaktion. Das sollte idealerweise nicht der*die Diversity-Beauftragte sein, sondern eine andere Person, vielleicht im gleichen Arbeitsstab.

4. Den Ist-Zustand erfassen

Der Weg zu mehr Diversität beginnt damit, zu erkennen, wo es an ihr mangelt. Das muss erst mal erfasst werden. Das kann die eigene Berichterstattung betreffen und Fragen umfassen wie:

  • Wie viele unserer Interviewpartner*innen sind Frauen, wie viele haben eine Behinderung oder Rassismuserfahrungen? 
  • Wie häufig lassen wir bei Migrationsthemen Geflüchtete und Migrant*innen selbst zu Wort kommen und wie oft bei Themen über Homosexualität schwule und lesbische Menschen?
  • Wie oft werden Frauenbilder in unserem Medium sexistisch oder queere Menschen klischeehaft dargestellt? Wie oft stellen wir Muslim*innen oder arme Meschen in einem neutralen oder negativen Kontext dar? Welche Stereotype verbreiten wir über Jüdinnen und Juden oder Russlanddeutsche uvm.

Zudem sollten Sie sich beispielsweise diese Fragen über Ihre Redaktion stellen:

  • Wie viele unserer Ressortleiter*innen sind Männer?
  • Wie viele unserer Neueinstellungen haben keinen akademischen Hintergrund?
  • Wie viele Mitarbeiter*innen stammen aus Einwandererfamilien und/oder zählen zu Gruppen, die von rassistischer Diskriminierung betroffen sind? (zum Beispiel Schwarze Menschen, People of Color, Sinti*ze & Rom*nja, Muslim*innen, Jüd*innen, Russlanddeutsche …)
  • Wie viele unserer Autor*innen gehören zu einer Gruppe, die Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen oder geschlechtlichen Identität erlebt?
  • Wie viele Redakteur*innen haben eine Behinderung?

5. Zielmarken definieren

Sind die Defizite im Medienunternehmen identifiziert, geht es nun daran, sie zu beheben. Dazu braucht es zuallererst verbindliche Ziele.

  • Besteht die Redaktion überwiegend aus weißen heterosexuellen Journalist*innen ohne Behinderung und Rassismuserfahrung? Spätestens dann bietet sich eine Zielmarke an. Diese kann sich zum Beispiel an der Zusammensetzung der Gesellschaft im Verbreitungsgebiet orientieren.
  • Medien mit überwiegend männlich besetzten Chefsesseln könnten sich zu einer 50-Prozent-Frauenquote für Führungspositionen verpflichten.
  • Kommen in der eigenen Berichterstattung überwiegend weiße Männer zu Wort, können die Ziele eine 50-Prozent-Quote für weibliche und 25-30 Prozent für nicht-weiße Expert*innen und Interviewpartner*innen sein.

6. Diversity-Maßnahmen durchführen

Um die gesetzten Ziele zu erreichen, braucht es die fürs Haus passenden Maßnahmen. Das kann eine neue Recruiting-Strategie sein, es können Quoten eingeführt oder Fortbildungen angeboten werden.

Alle Vorhaben müssen von Entscheider*innen im ganzen Haus vermittelt werden, sodass allen Kolleg*innen klar ist, was diese Veränderungen für sie bedeuten. Sie können zum Beispiel dazulernen. Denn keine*r von uns ist frei von Vorurteilen, aber vorurteilssensible Berichterstattung oder ein inklusives Redaktionsklima zu schaffen, ist trotzdem möglich.

Chefredakteur*innen können sich um Maßnahmen zur Professionalisierung ihrer Belegschaft kümmern, beispielsweise um Aus- und Fortbildungen, in denen Journalist*innen für typische, diskriminierende Fallstricke in der Berichterstattung sensibilisiert und interkulturelle Kompetenzen trainiert werden. Skeptische Mitarbeiter*innen können mit Anreizsystemen zur Teilnahme bewegt werden. Und für Volontär*innen sollten entsprechende Seminare sowieso verpflichtend sein.

7. Konsequenzen festlegen

Die besten Ziele nützen nichts, wenn sie einfach ignoriert werden können. Legen Sie deshalb im nächsten Schritt fest, was passiert, wenn Ziele nicht erreicht werden oder wenn sie sogar übertroffen werden. Eine effektive Maßnahme ist zum Beispiel, Beförderungen daran zu knüpfen, ob Diversity-Ziele erreicht oder zumindest verfolgt werden. In vielen US-amerikanischen und britischen Unternehmen ist das längst üblich. Zentrale Fragen dabei lauten:

  • Wie wird überprüft, ob die Zielmarken erreicht werden?
  • Wie wird festgestellt, welche Maßnahmen erfolgreich sind und welche nicht?
  • Welche Konsequenzen hat es, wenn die Ziele nicht erreicht werden?

8. Verantwortliche für die Evaluation benennen

Eine Person sollte Verantwortung tragen für die Überprüfung, ob Diversity-Ziele erreicht wurden. Am besten übernimmt das nicht die*der Diversity-Beauftragte selbst, damit eine möglichst objektive Bewertung der Maßnahmen gewährleistet werden kann.

9. Evaluation: Fortschritte überprüfen

In regelmäßigen Abständen sollte in konkreten Zahlen evaluiert werden, wie effektiv Ihre Maßnahmen sind. So können Konsequenzen gezogen, Strategien nachjustiert und das Vorgehen später an gesellschaftliche Veränderungen angepasst werden. Die Evaluation kann auf mehreren Wegen erfolgen, die sich gegenseitig ergänzen können. Am Beispiel der Evaluation der eigenen Berichterstattung wären das z.B. diese Maßnahmen:

  • Ihre Redaktion(en) zählen (freiwillig) gesellschaftliche Gruppen, die in ihren Beiträgen repräsentiert werden. Das bringt Veränderung durch Eigenmotivation und kostet fast nichts.
  • Auch technische Tools und geeignete Software können helfen, den Output der Berichterstattung auszuwerten.
  • Im Idealfall übernimmt die Evaluierung eine externe Stelle, zum Beispiel ein*e Medien- und Kommunikationswissenschaftler*in mit entsprechender Expertise oder ein unabhängiges Institut.
  • Eine oder mehrere verantwortliche Personen sollten den Überblick über sämtliche Diversity-Ziele behalten, die Maßnahmen koordinieren und regelmäßig über den aktuellen Stand informieren.
  • Eine ausführliche Beschreibung des Tools DICUM für die professionelle Evaluation von interkultureller Vielfalt in Medienbetrieben findet sich im Kapitel zur Evaluation.

10. Für Transparenz sorgen: Fortschritte öffentlich machen

Sind Ziele formuliert, Maßnahmen beschlossen und die Evaluation durchgeführt? Dann fehlt nur noch die Veröffentlichung aller Informationen und Fortschritte. Die interessierte Öffentlichkeit kann so ihre Kontrollfunktion wahrnehmen, potentielle Bewerber*innen erfahren von der Ausrichtung des Medienunternehmens und der Rest der Welt sieht, dass Sie es ernst meinen. Viele Medienunternehmen in England, USA, Australien und anderen Ländern veröffentlichen jährliche Diversity-Reports und informieren auf der eigenen Website über den aktuellen Stand ihrer Bemühungen.

Tipps und Tools: Wie wir helfen können

  • Unsere Organisationen befassen sich seit Jahren mit Diversität in Redaktionen und in der Berichterstattung. Laden Sie uns gern zu einer qualifizierten Blatt-, Sendungs- oder Online-Kritik ein. 
  • Wir vermitteln zudem laufend Trainer*innen für Seminare und Workshops zur Aus- und Fortbildung in Redaktionen und in journalistischen Ausbildungsgängen.
  • Wir analysieren die Berichterstattung des auftraggebenden Hauses – die Ergebnisse können ebenfalls in Workshops für professionelle Berichterstattung in einer pluralen Gesellschaft für Ihre Redaktion einfließen. 

Hier können Sie mit uns Kontakt aufnehmen.

Gastbeitrag: Diversity Management

Warum braucht es Beauftragte fürs Thema Vielfalt?

von Iva Krtalić

Das Thema der gesellschaftlichen Vielfalt durchdringt alle Bereiche der Medienarbeit: Wen stellen wir ein? Wie berichten wir kompetent über die plurale Gesellschaft? Und wer ist überhaupt „wir“ in unseren Programmen?

Um für das gesamte Publikum relevant zu bleiben, müssen Medien Vielfalt leben. Eine*r Beauftragte*r im Haus behält nicht nur dieses Bekenntnis als Ziel vor Augen. Sie führt auch die Reflexion über den Weg dorthin weiter, als Teil einer Gesamtstrategie, in der alle Bereiche zusammenspielen: Ausbildung, Personalstrategie, Redaktionen.

Allerdings wären diese strukturellen Maßnahmen ohne das große Ganze zu kurz gedacht. Sie müssen vielmehr in einem Kontext umgesetzt werden, in dem die Rolle der Medien in der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung um ebendiese Themen der Vielfalt immer neu interpretiert wird – auch diesen Gesamtblick muss eine zentrale Stelle leisten.

Iva Krtalić ist Beauftragte für Integration und Vielfalt im WDR.

Warum Quoten ein guter Weg für mehr Diversität sind

Weiß, cis-männlich, nicht behindert, heterosexuell und ohne Einwanderungsgeschichte. So sieht nach wie vor die Mehrheit in der deutschen Medienwelt aus. Mit der gesellschaftlichen Realität in Deutschland hat das nichts zu tun. Nach Jahrzehnten leerer Versprechen ist es an der Zeit, dass sich etwas ändert. Ein Weg sind bewiesenermaßen wirkungsvolle Quoten für mehr Diversität – nicht gesetzlich festgeschrieben, aber durch eine freiwillige Selbstverpflichtung von Medienbetrieben oder Redaktionen. Natürlich entscheiden sich auch Bewerber*innen freiwillig dazu, die entsprechenden Angaben zu machen. Alles andere ist arbeitsrechtlich ohnehin kaum möglich.

9 gute Gründe für Quoten

  1. Frauen und LSBTIQ* mit und ohne Behinderung oder Einwanderungsgeschichte sind in der Medienwelt unterrepräsentiert. Eine Quote hilft, diesen Missstand auszugleichen.  
  2. „Bei uns entscheidet allein die Qualifikation“. Das ist ein häufig gehörtes Argument gegen die Quote. Doch in Wirklichkeit setzen sich oftmals nicht die Besten der Branche, sondern die mit den besten Buddy-Netzwerken durch. Erst die Quote führt zu echtem Wettbewerb.
  3. Das Argument, wonach aufgrund von „Minderheitenboni” bald lauter schlechte Medienschaffende die Redaktionen bevölkern, ist irrational, denn Quoten greifen nur bei gleicher Qualifikation. Die Angst vor Qualitätsverlust durch Quoten ist unbegründet. 
  4. Gleich und Gleich gesellt sich gern. Weiße, heterosexuelle cis Männer neigen dazu, weiße, heterosexuelle cis Männer einzustellen. Eine Quote hilft bewussten und unbewussten Bias zu überwinden. 
  5. Eine Schwarze oder muslimische Kollegin reicht nicht aus. Damit sich neue Kolleg*innen wirklich entfalten können, statt sich dem bestehenden System anzupassen, braucht es mehr Kolleg*innen mit ähnlichen Erfahrungen. Eine ausreichend hohe Quote schafft die nötige kritische Masse.
  6. Vielfältige Teams bieten unterschiedliche Perspektiven, Fähigkeiten und Erfahrungen. Sie hinterfragen einander und verringern so das Fehlerrisiko. Von einer Quote profitiert das gesamte Unternehmen, nicht nur die Bewerber*innen. 
  7. Heterogene Belegschaften verbessern die Redaktionskultur. Wo Frauen arbeiten, herrscht oft ein familienfreundlicheres Klima, die Präsenz von Journalist*innen of Color schafft ein Bewusstsein für Rassismus, selbst die Witze in der Redaktionskonferenz werden besser. Eine Quote sorgt für Respekt und bessere Stimmung am Arbeitsplatz.
  8. Nur wo alte Muster und Strukturen eingerissen werden, kann Neues entstehen. Neue Kolleg*innen und ein respektvolleres Klima sorgen auch bei Alteingesessenen dafür, dem üblichen Trott zu entkommen und neue Inspiration und Motivation zu tanken. Von einer Quote profitiert die gesamte Belegschaft.
  9. Gute Absichten, wohlklingende Versprechen und vollmundige Bekenntnisse für mehr Vielfalt haben in den letzten Jahrzehnten wenig am diskriminierenden Status Quo geändert. Eine Quote schafft Verbindlichkeit, sie ist überprüfbar und transparent.

Empfehlungen für mehr Vielfalt in der Medienwelt

  • 50 Prozent Frauen[1] in Führungspositionen
    Gut die Hälfte der Bevölkerung, aber nur 10 bis 35 Prozent – je nach Mediengattung – der medialen Entscheider*innen sind Frauen. Frauenförderung, die allein auf den guten Willen der Medienhäuser setzt, funktioniert nicht. Jetzt hilft nur noch die Quote, um die gläsernen Decken zu sprengen.
  • 30 Prozent Journalist*innen mit Migrationshintergrund, Rassismuserfahrungen, Einwanderungsgeschichte
    27 Prozent der Gesamtgesellschaft, 40 Prozent der Kinder und Jugendlichen, über 50 Prozent in mancher Großstadt: Eine „kleine Minderheit” sind Menschen mit Migrationshintergrund allenfalls in der Redaktionskonferenz. Dazu kommen Schwarze Menschen ohne Migrationshintergrund und weitere Eingewanderte und ihre Nachkommen. Es wird Zeit, dass sich das in den Redaktionen und in den Medien zeigt.
  • Eine echte Quote von 10 Prozent für Menschen mit Behinderung
    Gibt es doch schon längst? Nein. Seit 1974 sind Arbeitgeber*innen gesetzlich dazu verpflichtet, Menschen mit Behinderung zu beschäftigen. Und dennoch findet sich in jedem vierten Unternehmen keine einzige solche Person, stattdessen wird eine Ausgleichsabgabe gezahlt. Wir fordern eine Quote, von der man sich nicht freikaufen kann.

Warum gibt es keine Empfehlung einer Personalquote für Queers?

LSBTIQ* sind sehr häufig nur als LSBTIQ* sichtbar, wenn sie sich selbst zum Comingout entscheiden. Eine Quote für queeres Personal ist darum schwer umzusetzen. Eine Quotenempfehlung von zehn Prozent bezieht sich deshalb nur auf queere Charaktere auf dem Bildschirm und queere Themen in anderen Medien. 

Die Ipsos-Studie „LGBT+ PRIDE 2021 GLOBAL SURVEY“ kommt zu dem Ergebnis, dass mindestens 11 Prozent der Menschen in Deutschland nicht heterosexuell sind, also beispielsweise schwul, lesbisch oder bisexuell. Zudem gaben 3 Prozent der Befragten an, nicht cis-geschlechtlich zu sein, also etwa trans* oder nicht-binär. Auf Basis dieser Zahlen fordert die Queer Media Society eine flexible On-Screen-Quote von durchschnittlich 10 Prozent für Queers. 

Auf den Fernsehbildschirmen machten bi- oder homosexuelle Charaktere 2020 gerade einmal 2,2 Prozent aus – in Print- oder Online-Medien dürften die Zahlen nicht viel höher sein. 

Abgesehen davon gilt die Empfehlung für Medien, die Vielfalt der Gesellschaft abzubilden, auch über LGBTIQ* hinaus. Nicht zuletzt, lässt sich so ein größeres Publikum erschließen. Denn wer sich nicht repräsentiert sieht, fühlt sich auch weniger angesprochen. Weitere Infos bieteten unsere Beiträge über 50:50-Projekt sowie „Beyond Gender“ der BBC.

Wie konkrete Ziele aussehen könnten…

Wir als Zeitung XY verpflichten uns bis 2030

  • zu einer Redaktion, deren Zusammensetzung mindestens so divers ist wie die Bevölkerung in unserem Verbreitungsgebiet 

  • mit unserer Berichterstattung die gesellschaftliche Vielfalt widerzuspiegeln und strukturell diskriminierte Gruppen nachprüfbar häufiger zu Wort kommen zu lassen

  • in Sachen Vielfalt Vorreiter unter den Medien in unserem Verbreitungsgebiet zu werden
     

Berichterstattung:

Um diese Ziele zu erreichen, verpflichten wir uns zu diesen Schritten:

  • Alle Mitarbeiter*innen werden bis 2025 mindestens einmal an einer Professionalisierungsmaßnahme teilnehmen, etwa an einem Training für diskriminierungskritische Sprache, Bildberichterstattung o.ä.
  • Entsprechende Seminare zum Umgang mit Sprache, Themenwahl, Perspektiven und ggf. Bildberichterstattung werden fester Teil der Volontär*innen-Ausbildung.
  • Wir setzen uns das Ziel, dass Frauen, LSBTIQ*, Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen mit Behinderung mindestens so oft zu Wort kommen, wie es ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht. Das betrifft Politiker*innen, Expert*innen, Interviewpartner*innen und alle anderen Protagonist*innen journalistischer Beiträge.
  • Alle drei Monate werden alle Berichte unserer Ressorts für den Zeitraum von 14 Tagen danach analysiert, wie viele Frauen und Menschen mit Diskriminierungserfahrungen sichtbar und repräsentiert sind. Redaktionen, die die Zielmarken nicht erreichen, sollten einen Plan vorlegen, wie sie den Anteil marginalisierter Gruppen an ihrer Berichterstattung erhöhen wollen.
  • Mindestens einmal pro Quartal laden wir kritische Stimmen aus der Zivilgesellschaft zu einer Blattkritik ein. Dazu zählen zum Beispiel Initiativen von Schwarzen Menschen und People of Color, Geflüchtetenorganisationen, Organisationen von queeren Menschen oder Menschen mit Behinderung und feministische Initiativen.

 

Redaktion

  • Alle zwei Jahre findet eine anonymisierte, freiwillige und von Expert*innen begleitete Erfassung der Vielfalt und Diskriminierungserfahrungen aller Mitarbeiter*innen statt.
  • In Führungspositionen gilt es eine Frauenquote von 50 Prozent zu erreichen.
  • Weitere gesellschaftliche Gruppen, die bisher in unserer Redaktion unterrepräsentiert sind, sollten bei jeder vierten Neueinstellung berücksichtigt werden. Hierzu zählen Menschen ohne akademische Ausbildung, Menschen mit Behinderung, LSBTIQ*-Personen sowie Menschen mit ostdeutscher Biografie.
  • Ein*e „Beauftragte*r für Diversity“ in Vollzeit, angegliedert an unsere Organisationsentwicklung, erarbeitet detaillierte Diversity-Maßnahmen, koordiniert deren Evaluierung, begleitet die Einhaltung von Diversity-Zielmarken und ist Ansprechpartner*in der Leser*innenschaft in Diversitätsfragen.
  • Ein*e Beauftragte*r für Anti-Diskriminierung im Haus dient als Ansprechpartner*in der Redaktion und erarbeitet mit Unterstützung des Personalrats bei Bedarf notwendige Maßnahmen für ein offenes, respektvolles Arbeitsklima.
Gastbeitrag: Medien und "der Osten"

Ostdeutsche sind mehr als „die anderen“ Deutschen

von Mandy Tröger
Eine „massenmedial multiple Problemzone“. So beschreibt eine aktuelle Studie den Osten der Republik.[2] Die Untersuchung zeigt: Auch 30 Jahre nach der Deutschen Einheit liegt der ostdeutsche Pressemarkt fest in Händen westdeutscher Verleger. Überregionale ostdeutsche Qualitätspresseprodukte werden kaum gelesen.

Bis heute gibt es kein originäres ostdeutsches überregionales Leitmedium, das im gesamtdeutschen Diskurs ostdeutsche Perspektiven einbringen könnte. Zudem sitzen in den Chefetagen der wichtigsten deutschen Leitmedien, sogar der ostdeutschen Regionalzeitungen, kaum Ostdeutsche.

Auch Journalist*innenschulen bilden kaum Nachwuchs mit ostdeutschem Hintergrund aus. Kurz: Westdeutsche Medieninstitutionen und -macher*innen dominieren die deutsche Medienlandschaft und damit auch den Diskurs über „den Osten“. Die Folgen für die Berichterstattung sind nicht zu unterschätzen.

Ostdeutsche als die „eigenen Anderen“

„Ost-Migrantische Analogien“ nennen Forscher*innen das Phänomen, dass Ostdeutsche und Migrant*innen medial häufig überraschend ähnlich dargestellt werden: Ostdeutschen und Migrant*innen wird vorgeworfen, „sich zum Opfer zu stilisieren, sich nicht genug vom Extremismus zu distanzieren und noch nicht im heutigen Deutschland angekommen zu sein“.[3] Beiden Gruppen mangelt es an Repräsentation, beide erfahren Abwertung.

Dabei werden Ostdeutsche als die „eigenen Anderen“ markiert. „Ostdeutsch“ gilt als minderwertige Abweichung vom westdeutschen Standard. Das heißt: Der mediale Blick auf „den Osten“ ist von Stereotypisierungen geprägt. Diese stammen häufig noch aus der Vor- und Nachwendezeit und sind damit gut etabliert und leicht abrufbar. Die DDR stand für Mangelwirtschaft, Überwachung und Diktatur. Um die Alltagserfahrungen der Menschen und deren Lebensweisen im Privaten ging es damals kaum – und heute auch nicht.

Wenn "der Osten" gewählt hat

Heute steht „der Osten“ für Extremismen wie Rechtsradikalismus oder Pegida, für Probleme wie Arbeitslosigkeit und gesellschaftliche Stagnation, die gern als „typisch ostdeutsch“ dargestellt werden.[4] Heraus kommt der „anormale Ossi“.[5] Dessen Besonderheit definiert sich allein aufgrund der Herkunft, er wird häufig mit Schwäche oder Hilfsbedürftigkeit gleichgesetzt oder schlichtweg als Belastung gedeutet. In der Berichterstattung wird psychologisiert, biologisiert, essentialisiert und ethnisisert.[6]

„Der Osten“ wird zudem verallgemeinert und durch Statistiken erklärt. Das passiert beispielsweise, wenn eine Landtagswahl mit „Der Osten hat gewählt“ betitelt wird, wenn die Alternative für Deutschland (AfD) als ostdeutsches Phänomen abgestempelt und ihr Wahlerfolg mit der Diktaturerfahrung ihrer Wähler*innen begründet wird. Individuelle Erfahrungen, regionale Unterschiede und Vielfalt sowie die sozialen oder wirtschaftlichen Hintergründe für aktuelle gesellschaftliche Debatten fallen aus dem Bild.

Auswirkungen struktureller Abhängigkeiten

Die Diskrepanz zwischen realer ostdeutscher Vielfalt und der medialen Eintönigkeit, mit der über „den Osten“ berichtet wird, ist sicher ein Grund, warum die überregionale westdeutsche Presse dort bis heute kaum Absatz findet. Warum auch sollten Menschen etwas konsumieren, das „das Eigene“ erklärt und „zum Anderen“ macht?

Auch „Lügenpresse“-Rufe lassen sich teilweise mit der Diskrepanz zwischen subjektiver Wahrnehmung und medialer Darstellung „des Ostens“ erklären. Letztlich geht es um mediale Entfremdungserfahrungen, die durch ganz praktische Entfremdungsprozesse der Wendezeit unterfüttert werden: Anfang der 1990er wurden fast alle großen DDR-Zeitungen von westdeutschen Verlagen gekauft. Diese Entwicklung beschränkte sich nicht auf den Pressemarkt. Sie vollzog sich in allen sozialen und wirtschaftlichen Bereichen.

Für den Pressemarkt aber hieß das: Die Regionalmonopole der SED, die ehemalige Staatspartei der DDR, wurden nicht wie 1989 gefordert, zerschlagen. Sie blieben bestehen und gingen früh an finanzstarke westdeutsche Großverlage, die den Markt weiter konsolidierten. So wurde aus einem ehemaligen politischen Monopol die Marktmacht der Wirtschaftsmonopole. Die vielen DDR-Zeitungsneugründungen der Wendezeit (ca. 120 allein im Jahr 1990) gingen unter dem rasch einsetzenden Marktdruck kaputt. Auch deshalb konnte sich bis heute kein eigenständiges überregionales Leitmedium im Osten etablieren.

Mit Geschichte in die Zukunft

Im Wissen um diese strukturellen Abhängigkeitsverhältnisse und die daraus resultierenden personellen und inhaltlichen Ungleichgewichte in der deutschen Medienlandschaft liegen Chancen.
Medien müssen regionaler, lokaler und differenzierter berichten, um „den Osten“ und dessen Bewohner*innen als das zu sehen, was sie sind: Menschen mit verschiedensten Erfahrungshorizonten abseits ausgetretener Stereotype und etablierter medialer Muster. Dazu braucht es mehr Journalist*innen vor Ort, die lokale Strukturen verstehen und diese über regionale Grenzen hinweg vermitteln. Denn „der Osten“ ist in Thüringen völlig anders als in Mecklenburg-Vorpommern. Überregionale Medien sollten diese Vielfalt abbilden.

Das bedeutet auch: Journalist*innen brauchen ein konstruktiv kritisches Geschichtsverständnis. DDR-, Wende- und Nachwendeerfahrungen (selbst über Generationen hinweg) sind wichtig, um aktuelle Debatten einordnen und nachvollziehen zu können. Dabei gibt es eine wachsende Zahl von Wissenschaftler*innen, die sich mit der Erforschung der DDR und des Ostens abseits ausgetretener Diktatur-Pfade befassen. Sie erforschen beispielsweise Alltagskultur oder DDR-Geschichtskonstruktion und können als Expert*innen herangezogen werden.

Andere Möglichkeiten, den engen Korridor der medialen Darstellung über „den Osten“ zu weiten: Ostdeutsche zu Erzähler*innen ihrer Geschichten machen und dabei Komplexität und Ambivalenzen zuzulassen. Vielfältige lokale Initiativen bieten zahllose interessante Interviewpartner*innen. Über sie können sich Menschen identifizieren und sehen, dass sie letztlich gar nicht so „anders“ sind.

Mandy Tröger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München. 2019 erschien ihr Buch „Pressefrühling und Profit. Wie westdeutsche Verlage 1989/1990 den Osten eroberten”.

 

Gastbeitrag: Vielfalt bei der Deutschen Welle

Warum Diversität Chefsache ist

von Erkan Arikan

Als ich vor fast zwei Jahrzehnten für die Unternehmenswebsite meines Arbeitgebers gefragt wurde, was denn meine Ziele seien, habe ich nicht lange überlegen müssen: „Ich möchte gerne Vorbild für alle Journalist*innen sein, die im Medienberuf vorankommen wollen!“ Natürlich sagte ich das damals mit einer gewissen Naivität, denn was bedeutet „vorankommen“ eigentlich? Intendant mit ausländischen Wurzeln zu werden? Agenda Setting zu betreiben, damit man als Entscheider diverse Themen ins Programm bringen kann? 

Vielleicht beides. Denn in meiner fast 30-jährigen journalistischen Karriere habe ich nie eine*n Intendant*in, eine*n Chefredakteur*in oder eine*n Hauptabteilungsleiter*in mit diversen Wurzeln kennengelernt.

Hier bin ich richtig

Ja, bis zu dem Tag, als ich bei der Deutschen Welle vor fast genau zwei Jahren angefangen habe. Vom ersten Tag an wusste ich: Hier bin ich richtig. Denn Diversität im Programm wird hier großgeschrieben. Aber auch Diversität in der Ebene der Entscheider*innen. Nicht zuletzt hat die DW-Chefredakteurin Manuela Kasper-Claridge genau dieses Thema zu Beginn ihrer Ernennung auf ihre persönliche Agenda gesetzt.

Und so kam es, dass sie durch ein diverses Team von fünf DW-Kolleginnen und Kollegen mit unterschiedlichen kulturellen und fachlichen Hintergründen unterstützt wird. Sie sind Expert*innen auf ihrem journalistischen Gebiet und stehen im regelmäßigen Austausch mit den DW-Mitarbeitenden, um ihre Anregungen und Ideen in die Chefredaktion zu tragen. Unter ihnen sind Jaafar Abdul-Karim, Kristin Zeier, Chiponda Chimbelu, Sandra Petersmann und meine Wenigkeit.

Diversität braucht Erfahrung und Empathie

In ihrer Antrittsrede sagte Manuela Kasper-Claridge: „Die Deutsche Welle steht für große kulturelle Vielfalt. Bei uns arbeiten Journalistinnen und Journalisten mit den unterschiedlichsten Wurzeln und mit viel Verständnis für die Nutzerinnen und Nutzer in den Zielregionen weltweit. Es war mein ausdrücklicher Wunsch, dass sich dies auch in der Chefredaktion widerspiegelt. Ich freue mich deshalb sehr über die neuen Mitglieder der Chefredaktion, die das Haus und mich in meiner Arbeit beraten werden. Mit ihren individuellen Stärken und Kenntnissen werden sie inhaltlichen Input geben, der gerade auch in Bezug auf die weitere Digitalisierung sehr wichtig ist.“

Ein diverses Team zu schaffen, diesen Schritt zu gehen, bedarf nicht nur einer gewissen Erfahrung, sondern auch einer gewissen Empathie. Denn solche Entscheidungen können nicht durch eine „Revolution durch die Belegschaft“ hervorgerufen werden, sondern müssen zwingend von den Führungskräften kommen. Daher fühle ich mich sehr geehrt und bin auch sehr stolz, Teil der DW-Chefredaktion zu sein.

Gleichzeitig würde ich mich sehr freuen, wenn auch andere Medienhäuser diesem Beispiel folgen würden. Denn da draußen gibt es eine Vielzahl sehr gut ausgebildeter Journalist*innen mit diversen Wurzeln, die professionellen Input in die Chefetage mehr als nur gerne einbringen würden.

Erkan Arikan ist Leiter der Türkisch-Redaktion und Mitglied der Chefredaktion der Deutschen Welle sowie Mitglied des Vorstands der Neuen deutschen Medienmacher*innen. Er ist ein Gastarbeiterkind der zweiten Generation. Ihm ist es besonders wichtig, dass, nach über 60 Jahren Einwanderung in Deutschland, die Menschen auch in den Medien entsprechend abgebildet und repräsentiert werden.

  1. 1 Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass diese Zahl  sehr binär gedacht ist, aber da unsere Gesellschaft nach wie vor binär gegliedert ist und weil wir aus Gründen keine Personalquote für queere Menschen fordern, ist das an dieser Stelle so formuliert.
  2. 2 Mükke, Lutz. 2021. 30 Jahre staatliche Einheit – 30 Jahre mediale Spaltung. Schreiben Medien die Teilung Deutschlands fest? Arbeitspapier 45. Otto Brenner Stiftung. Frankfurt am Main, S. 3
  3. 3 Foroutan, Naika, Frank Kalter, Coşkun Canan und Mara Simon. 2019. Ost-Migrantische Analogien. I. Konkurrenz um Anerkennung. Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung. Berlin, S. 37.
  4. 4 Bojenko-Izdebska, Ewa. 2013. Die Ostdeutschen in ausgewählten Karikaturen. In: Rebecca Pates und Maximilian Schochow (Hrsg.): Der „Ossi“: Mikropolitische Studien über einen symbolischen Ausländer. Wiesbaden: Springer VS, 191-207, S. 194; Matthäus Sandra, und Daniel Kubiak. 2016. Neue Perspektiven auf „den Osten“ jenseits von Verurteilung und Verklärung – Eine Einleitung. In: Sandra Matthäus und Daniel Kubiak (Hrsg.). Der Osten. Wiesbaden: Springer VS.
  5. 5 Kollmorgen, Raj, und Torsten Hans. 2011. Der verlorene Osten. Massenmediale Diskurse über Ostdeutschland und die deutsche Einheit. In: Raj Kollmorgen, Frank Thomas Koch und Hans-Liudger Dienel (Hrsg.). Diskurse der deutschen Einheit: Kritik und Alternativen. Wiesbaden: VS Verlag, S. 107–166.
  6. 6 Pates, Rebecca. 2013. Einleitung – Der „Ossi“ als symbolischer Ausländer. In: Rebecca Pates und Maximilian Schochow (Hrsg.). Der „Ossi“: Mikropolitische Studien über einen symbolischen Ausländer. Wiesbaden: Springer VS, S. 7–20, S. 8.